Jesses Maria - Hochzeitstag
seinen 85. Geburtstag.
Onkel Alois ist gut dabei: Schnäpschen schmeckt noch, Zigarettchen schmeckt noch, Verdauung funktioniert tipptopp. Die ganze bucklige Verwandtschaft hatte sich bei Tante Lisbeth und Onkel Alois versammelt. Viele davon sind so alt, dass ich sie wohl als Nächstes bei irgendeiner Beerdigung wiedersehe.
Alle hatten die abwärts zeigenden ostwestfälischen Mundwinkel, nur Tante Lisbeth nicht. Sie lächelte die ganze Zeit. Am glücklichsten lächelte sie, wenn sie den Turm, den sie aus Bauklötzen aufgebaut hatte, mit dem Unterarm in hohem Bogen vom Tisch fegte. Onkel Alois lobte sie dann und sagte, das habe sie wirklich fein gemacht, und Tante Lisbeth klatschte vor Freude in die runzligen Hände. Onkel Hinnack, das ist ihr Bruder, drehte sich weg. „Ich kann das nicht sehen“, sagte er.
Tante Lisbeth ist dement. Sie hat fast alles vergessen, was sie erlebt hat, und sie kann sich auch nichts Neues mehr merken. Sie weiß nicht mehr, dass sie eine alte Frau ist, dass sie Lisbeth Hannemann heißt und dass Onkel Alois seit sechzig Jahren ihr Mann ist. Sie denkt, sie sei ein Kind, und spielt am liebsten mit Bauklötzen. Ist das nicht schrecklich?
Tante Lisbeth scheint es aber zu gefallen, denn sie war in der ganzen Runde die Einzige, die immer lächelte.
Ich hab versucht, mir vorzustellen, wie es ist, wenn man seinganzes Leben vergessen hat. Kann man sich natürlich nicht vorstellen, das Vergessen, wenn man das nicht selbst erlebt hat.
„Demenz kann jeden treffen“, hat Onkel Hinnack gesagt, und da habe ich Angst bekommen, dass es bei uns in der Familie liegt. Nun ist Tante Lisbeth zwar bloß angeheiratet, Onkel Alois ist nämlich der Bruder meines verstorbenen Vaters, aber man weiß ja nie. Und zur Sicherheit, für alle Fälle, falls ich auch mal alles vergesse und nur noch mit Bauklötzen spielen möchte, schreibe ich jetzt öfter auf, was mir passiert ist. Wäre doch wirklich eine Schande, wenn alles vergessen würde, was man so erlebt hat.
Das ist ein ehrenwertes Haus
Der Udo Jürgens hat sich immer für irgendwas engagiert, absolut sozialkritisch sind seine Texte. Auch heute noch. „Das ehrenwerte Haus“ zum Beispiel, das ist eine Geschichte, die bestimmt im Kern wahr ist.
Ich hab auch mal in einem ehrenwerten Haus gelebt. Das war, bevor Manni und ich uns entschieden hatten, uns Eigentum anzuschaffen und noch zur Miete wohnten.
Das Drama fing eigentlich schon am Tag unseres Einzugs an. Wir hatten uns auf die Wohnung gefreut, denn sie war ein echtes Schnäppchen gewesen. Vier Zimmer, Küche, Bad, Balkon, frisch renoviert, hell und sonnig, und alles war mit graublauem Velours-Teppichboden ausgelegt.
Die Kinder maulten zuerst, das Haus wäre hässlich, und die Straße hätte ja gar keine Bäume, und der Große meinte, es sähe aus wie ein Karnickelstall für Menschen.
Manni sagte: „Viele Menschen leben in Sechsfamilienhäusern, das ist normal, und ihr seid jetzt mal dankbar, dass ihr überhaupt ein Dach überm Kopf habt. In den Slums in Südamerika leben die Kinder in Kartons.“
Als der Hausverwalter uns den Schlüssel gab, hätte ich schon hellhörig werden müssen. Ich fragte ihn, wer in den anderen Wohnungen lebt, denn es ist ja wichtig zu wissen, mit wem man unter einem Dach wohnt, da fing er an herumzudrucksen.
„Nun. Äh. Ja, also Familie Vogt, Mitte rechts, hat auch zweiKinder. Und neben Ihnen wohnt ein Ehepaar Güselem, Türken. Die arbeiten aber beide! Mitte links wird neu vermietet, die Wohnung steht noch leer. Tja, und äh, die beiden … Damen im Parterre sind ein bisschen … äh …, also Frau Schneeberg und Frau Olschewski, die wohnen schon seit fünfundzwanzig Jahren hier und, sagen wir mal so, sie sorgen dafür, dass im Haus immer alles seine Ordnung hat.“
Ich schöpfte überhaupt keinen Verdacht. Mit zwei alten Damen würde ich schon auskommen.
Es dauerte eine Zeit, bis ich Frau Schneeberg und Frau Olschewski persönlich kennenlernte, bis dahin sah ich sie nur hinter ihren Küchengardinen. Wann immer ich zur Haustür ging, huschte ein Kopf mit grauer Helm-Dauerwelle hinter den blütenweißen Gardinen her. Ich hab dann ein paar Mal freundlich gegrinst und gewinkt, und schwupps, war keiner mehr zu sehen. Nur die Gardine bewegte sich noch ein bisschen.
Da ahnte ich immer noch nicht, was uns blühte.
Frau Olschewski traf ich leibhaftig zum ersten Mal in der Waschküche, abends um halb neun. Später erfuhr ich, dass sie jeden Abend, bevor sie ins Bett ging,
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