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Jessica

Jessica

Titel: Jessica Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linda Lael Miller
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Insgeheim nannte er sie bereits Jessie, hütete sich aber, sie so anzureden, weil er wusste, wie kratzbürstig sie sein konnte.
    Sie stand mit einem Telegramm in der Hand am Schalter des Telegrafenamtes und sah aus, als wollte sie das Schreiben gleich in zwei Teile zerreißen, so fest umklammerte sie es.
    »Schlechte Nachrichten?«, fragte Gage. Ihr Anblick war doch besser als Whiskey.
    Sie sah ihn an, blinzelte - offenbar hatte sie ihn gar nicht hereinkommen hören - und schob das Telegramm in die Manteltasche. »Nichts, was Sie etwas angeht«, erwiderte sie hochnäsig, als hätte sie nie eingewilligt, seine Frau zu werden. »Haben Sie den Zug gefunden?«
    Gage seufzte, hängte seinen Hut auf und zog den nassen Mantel aus. Von C. W. war nichts zu sehen, was ihm recht war, denn er wollte nicht auch noch von ihm ausgefragt werden. »Wir haben ihn gefunden. Fast alle Reisenden waren sofort tot.«
    Jessica erbleichte, und er dachte schon, er müsse sie festhalten; aber dann fasste sie sich wieder. »Fast alle?«, fragte sie.
    »Eine Frau und zwei kleine Jungen haben überlebt. Zwanzig andere hatten weniger Glück.«
    Jessica sah an ihm vorbei durch die Glastür. »Ihr habt sie alle da draußen gelassen?«
    Er sah sie an und trat an den warmen Ofen. »Nein, ein Trupp Bahnarbeiter ist heute Morgen gekommen. Sie bringen die Leichen nach Missoula.«
    Sie schluckte. »Wie schrecklich! So viele Leute!«
    Zumindest schrieb sie nicht mit, wie die meisten Reporter es getan hätten. Gage nickte und begriff jetzt erst das ganze Ausmaß der Tragödie - vielleicht hatte er sich bisher dagegen abgeschottet. Jetzt hätte er am liebsten etwas zerschlagen, gegen die ungerechten Gesetze von Leben und Tod gewütet - egal, ob ihm das etwas genutzt hätte.
    Jessica fuhr sich mit der Zungenspitze über die Lippen - eine unschuldige Geste -, aber es setzte sich etwas in ihm in Bewegung, das lange verschüttet gewesen war. Bis er Jessica das erste Mal gesehen hatte.
    »Ich habe gestern mit Mr. Brody gesprochen«, begann sie.
    »Ich wünschte, ich wäre dabei gewesen«, erwiderte er.
    Sie sah ihn mit einem Blick an, der die Farbe von den Wänden hätte lösen können, sagte aber nichts, weil sie seinen Zustand erkannte. Er war enttäuscht, weil ihre Wut eine nette Ablenkung gewesen wäre. Sie war eine leidenschaftliche Frau, auch wenn sie es nicht wusste. Noch nicht.
    »Er hat mir gesagt, wie viel Michael Ihnen schuldete.«
    Gage war zu müde, um sich über diese Mitteilung zu ärgern.
    Wenn er wieder fit war, würde er C. W. vielleicht an seinem mageren Hals packen und so lange zudrücken, bis er blau wurde; aber sosehr ihn diese Aussicht auch reizte, es musste warten. Am liebsten hätte er sich auf den Boden vor dem Ofen gelegt und wäre sofort eingeschlafen.
    »Hat er das?«, fragte er lahm. Er hatte gehofft, Jessica würde das Thema damit fallen lassen, aber das tat sie natürlich nicht.
    »Ich habe nach St. Louis nach meinen Ersparnissen telegrafiert. Sie schicken das Geld auf eine Bank in Choteau. Ich muss es nur dort abholen.«
    »Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, Miss Barnes: Da draußen tobt bald ein Schneesturm.« Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Vielleicht war der Whiskey doch besser. »Außerdem ist es zu spät. Die Dokumente sind bereits geändert.« Er war grob und war sich dessen bewusst, aber er war zu müde, um noch höflich zu sein.
    Jessica wurde noch blasser. »Wenn Sie noch ein wenig Anstand besitzen, Mr. Calloway, akzeptieren Sie das Geld und überlassen mir die Gazette. Immerhin bin ich die rechtmäßige Besitzerin.«
    »Ich bin der rechtmäßige Besitzer«, korrigierte er sie.
    Einen Moment sah sie aus, als wenn sie ihn schlagen wollte. »Bestehen Sie etwa darauf, dass wir diese Farce von einer Verlobung aufrechterhalten?«
    Er lächelte. »Eine Abmachung ist eine Abmachung«, erinnerte er sie.
    Sie machte auf dem Absatz kehrt und stürmte hinaus.
    Er hätte ihr jetzt wohl nachgehen sollen, sich entschuldigen, ihr die Zeitung zurückgeben und die Verlobung lösen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Er war einfach zu müde. Das musste alles warten.
    Gage schlief zwei Tage lang.
    Als er dann morgens erwachte, war der Himmel kl ar, aber jeder wusste, dass noch mehr Schnee fallen würde. Man konnte ihn förmlich riechen.
    C. W. begrüßte ihn etwas verlegen, als Gage auf der Suche nach Kaffee aus seinem Büro kam. »Schön, dich wiederzusehen, Gage«, sagte er und wandte den Blick schnell wieder ab.
    Gage

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