Jessica
der Typ Frau, der es gewohnt war, hausgebrannten Whiskey zu trinken.
»Der Lokführer und der Schaffner ...«, begann sie, »sind sie ... ?«
»Tot«, sagte Pres, der manchmal so taktvoll war wie ein Schmiedehammer. »Sie und die Jungs sind die einzigen Überlebenden, fürchte ich. Hatten Sie Familie an Bord?«
Sie schüttelte den Kopf, presste plötzlich die Hand vor den Mund, taumelte davon und übergab sich in den Schnee.
»Konntest du ihr das nicht ein bisschen schonender beibringen?«, zischte Trey.
Pres blieb ihm nichts schuldig. »Wozu?«, fragte er. »Tatsache ist Tatsache. Jeder andere im Zug wurde entweder schon bei dem Unfall getötet oder ist erfroren.«
Der kleinere Junge begann zu weinen. An seinem Mantel hing ein Zettel mit der Nummer 18 und einem Namen. Gage las den Zettel. »Komm, Tommy«, sagte er, »es wird alles wieder gut, du wirst schon sehen.«
»Hör auf zu weinen«, befahl der Ältere mit schmerzverzerrter Miene. »Wir sind doch am Leben, oder? Also sind wir glücklich.«
Tommy schniefte und versuchte, sich zusammenzureißen. »Aber mir ist kalt, Ben, und ich habe Hunger. Jetzt werden wir nicht gedoptet.«
Da begriff Gage. Die beiden waren wahrscheinlich Brüder, die man nach Westen geschickt hatte, damit sie ein Zuhause fanden. Ein großer Teil solcher Zug-Waisen landete dort, wo er wie die Esel arbeiten musste, aber viele fanden auch Pflegeelte rn , die sie adoptierten und gut zu ihnen waren.
Die Frau kam zurück, und man sah ihr an, wie elend sie sich fühlte. »Wir bleiben doch nicht über Nacht hier?«, fragte sie und tupfte sich den schlanken Hals mit einem Taschentuch sauber.
Pres sah sie unfreundlich an, weil er wahrscheinlich Angst hatte, dass sie die Kinder wieder erschrecken könnte. »Wenn wir heute Nacht zurückzureiten versuchten, würden wir erfrieren«, lehnte er ab.
So war Pres. Er wusste, wie man sich kl ar und deutlich ausdrückte.
Tommy war näher an seinen Bruder herangerückt. »Tut das weh?«, fragte er und deutete auf die Schiene.
Ben schlug nach ih m, traf ihn aber zum Glück nicht. »Was denkst du denn?«, fauchte er.
Gage seufzte und lehnte sich gegen einen Baum. Es würde eine lange Nacht werden.
»Woher kommt ihr, Jungs?«, fragte Pres, als er mit Bens Bein fertig war und ihm auf die Schulter klopfte, weil er so tapfer gewesen war.
»Boston«, erwiderte Ben. »Wir sollten adoptiert werden.« Er sah Pres mit einem herausfordernden Blick an. Offensichtlich besaß dieses Kind reichlich Stolz, wenn auch sonst wahrscheinlich nichts. »Tommy ist mein Bruder, und wir bleiben zusammen, egal, was kommt. Wir müssen jemanden finden, der uns beide nimmt.«
Pres schien nachzudenken und richtete seinen Blick nach Springwater, das gut fünfzehn Meilen entfernt lag. »Ich glaube, ich kenne jemanden, der das tun würde«, sagte er dann.
Lancuy versetzte Gage einen Ellbogenstoß, und dabei grinste er von einem Ohr zum anderen.
6
Als Gage und die anderen am späten Nachmittag des nächsten Tages nach Springwater zurückkamen, wünschte die halbe Grup pe, sie hätten Miss Olivia Wil cott Darling nicht mitgenommen, sondern dem Kältetod überlassen. Die andere Hälfte hoffte, dass ihr die Stadt nicht gefallen und sie bald weiterziehen würde.
Mithilfe von Landry brachte Pres die beiden kleinen Jungen, Tommy und Ben, in sein Haus. Blieb noch Miss Darling. Gage fand es höchst ironisch, dass sie so einen Namen hatte, und noch ironischer, dass sie es war, die sein Haus gekauft hatte, ohne es vorher gesehen zu haben. Sie wollte in der Springwater Station bleiben, bis sie sich genügend erholt hatte, um das Haus in Besitz zu nehmen, das sie zu einer Pension zu machen gedachte. Also musste Trey sie zu J unebug bringen, ehe jemand die Beherrschung verlor und sie erdrosselte.
Gage war fast taub vor Kälte und zu müde, um zu denken. Wenn er gerne getrunken hätte, hätte er jetzt beim Whiskey Zuflucht gesucht, aber so überlegte er nur, ob er sich daran gewöhnen sollte oder nicht. Er band sein erschöpftes Pferd vor dem Telegrafenamt an und ging hinein, um sich am Ofen etwas aufzuwärmen. Danach wollte er sich in sein Büro begeben, um dort auf dem Rosshaarsofa zu schlafen, das eigentlich für Klienten gedacht, die über Nacht blieben. Er hatte vor, den größten Teil der Woche zu schlafen.
Natürlich hatte er nicht damit gerechnet, Miss Jessica Barnes - seine Zukünftige, wie er sich überrascht ins Gedächtnis rief - zu sehen, als er über die Schwelle trat.
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