Jesus liebt mich
Hand nur zur Seite und sagte bestimmt: «Wenn du dich nicht mit Swetlana anfreunden kannst, dann musst du dieses Haus verlassen.»
Er ging, und ich war fertig: Mein eigener Vater drohte damit, mich vor die Tür zu setzen.
Auf dem Weg nach draußen kam ich an der Küche vorbei, in der Swetlana und ihre Monster-Tochter «Mensch ärgere dich nicht» spielten. Swetlana sah glücklich aus, viel weniger verkniffen, als ich sie bisher erlebt hatte. Als ob ihr ein Stein vom Herzen gefallen wäre. Entweder weil sie nun in Deutschland mit ihrer Kleinen das Konto meines Vaters plündern konnteoder weil die Kleine von ihrer Epilepsie geheilt war. Höchstwahrscheinlich war es beides zusammen. Ich hielt inne, mir wurde nun klar, dass wir gestern alle gemeinsam Zeuge eines Wunders geworden waren. Tiefe Ehrfurcht erfüllte mich. Vielleicht sollte ich Swetlana erzählen, dass ihre Tochter für immer geheilt sei. Das würde uns sicherlich menschlich verbinden. Wir könnten alle Streitereien über den Haufen werfen. Jesu Wunder hätte uns für immer zu einer Gemeinschaft verschmolzen …
Da sah mich die Kleine und streckte mir die Zunge raus. Ich zeigte ihr den Stinkefinger und verließ das Haus.
Jesus und ich hatten uns an dem Steg verabredet, an dem wir am Morgen gesessen hatten. Für viele Menschen wäre so eine Begegnung ein phantastisches Erlebnis gewesen – gut, vielleicht nicht für Osama bin Laden. Der hätte dann gemerkt, dass er die letzten Jahrzehnte für nichts und wieder nichts in afghanischen Höhlen ohne Sanitäranlagen verbracht hatte. Aber ich war nur Marie aus Malente, was hatte so eine wie ich mit ihm schon zu reden? Ich fühlte mich völlig überfordert.
Ich betrat den Steg, auf dem Jesus in der Abendsonne stand. Es war ein so wunderbarer Anblick, dass Michelangelo sein Konzept für die Sixtinische Kapelle sicherlich nochmal überdacht hätte. Jesus hatte immer noch dieselben Klamotten an, die nie dreckig wurden – das war wohl eine der praktischen Seiten, wenn man der Messias war. Heute Morgen hatten meine Gefühle bei seinem Anblick noch Purzelbäume im Akkord geschlagen, doch jetzt war ich einfach nur schwer eingeschüchtert.
«Hallo, Marie», begrüßte mich Jesus.
«Hallo …»
Mir fiel es schwer, «Jesus» zu sagen, also beließ ich es bei dem «Hallo» und knöpfte mir den obersten Knopf meiner Bluse zu. Meine Gefühle für ihn lagen immer noch k. o. am Boden.
«Was wollen wir unternehmen?», fragte er.
«Ich … ich zeig dir erst mal ein bisschen Malente», schlug ich verlegen vor.
«Schön», lächelte Jesus.
Geht so, dachte ich.
Ich führte Jesus zu unserer zweiten Kirche im Ort. Die, in der einst meine Eltern geheiratet hatten. Ein Gotteshaus, so dachte ich mir, wäre doch das Passende für diese Verabredung. Sicherlich besser als ein Besuch im hiesigen Salsa-Club.
«Bist du oft hier?», wollte Jesus wissen, als wir die kleine, unprätentiöse Kirche betraten.
Was sollte man denn darauf antworten? Die peinliche Wahrheit? Oder lügen? Aber Jesus anzulügen war sicherlich nicht angebracht, besonders wenn es die Hölle wirklich gab.
«Gelegentlich», antwortete ich. Eine Wischiwaschi-Antwort zu geben schien mir der richtige Ansatz zur Bewältigung der Situation.
«Was ist denn dein Lieblingsgebet hier in der Kirche?», fragte Jesus neugierig.
Ach du meine Güte, ich kannte ja kein einziges im Wortlaut. Hastig dachte ich nach und antwortete: «Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast.»
«Ihr esst in der Kirche?», fragte Jesus verwundert.
Gott, war das peinlich. Ich beschloss, die Klappe zu halten, bevor ich mich noch weiter reinritt. Wir schlenderten schweigend in Richtung Altar. Jesus konnte sich an dem Anblick allder Kreuze nicht wirklich erfreuen – sicher weckten sie Erinnerungen –, aber er schien ganz happy, dass man in diesem Haus Gott huldigte.
Nur … ich war ja nicht gerade eine Kanone im Huldigen. Ich fühlte mich daher so was von unwohl. Wie sollte ich diesen Abend nur durchstehen?
Jesus betrachtete die Bilder an den Wänden, während ich krampfhaft auf den Boden starrte und bemerkte, dass man die Kirche auch mal wieder durchwischen könnte.
Plötzlich musste Jesus lachen.
«Was ist?», fragte ich neugierig und wandte meinen Blick vom dreckigen Boden ab, hin zu ihm.
«Meine Mutter sah ganz anders aus.» Er zeigte auf eins der Marienbilder, auf dem sie einen Heiligenschein über sich trug und wie aus Ebenholz
Weitere Kostenlose Bücher