Jesus liebt mich
ich erwartete schon fast mein Todesurteil, doch er sagte nur: «Morgen Abend läuft das nächste Schiff gen Israel aus. Bis dahin gebe ich dir Zeit.»
Mein «Um den Hals fall»-Instinkt regte sich wieder. Aber da Jesus mir eine Umarmung sicherlich negativ auslegen würde, unterdrückte ich den Impuls.
Dann wurde mir bewusst, welche Verantwortung ich auf mich genommen hatte: Das Schicksal der Menschheit lag nun in meinen Händen. Ausgerechnet ich sollte die Welt retten!
Schade eigentlich, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wie ich das anstellen sollte.
40
Ich saß schweigend mit Jesus auf dem Steg und dachte über mein Dilemma nach. Vielleicht sollte ich ihm einfach zeigen, wie viele gute Menschen es auf dieser Welt gibt. Leider fiel mir niemand ein, der so richtig edel war. Außer so Leute wie Gandhi, Mutter Teresa oder Martin Luther King, doch die waren alle schon tot, und Jesus kannte sie sicherlich auch schon. Wahrscheinlich spielte er gemeinsam mit ihnen einmal die Woche im Himmel eine gepflegte Partie Backgammon oder was immer man sonst da oben so tat.
Ja, was genau machte man eigentlich im Himmel den lieben langen Tag? Und was würden die Menschen im Himmelreich auf Erden tun, wenn es denn nächste Woche Dienstag auf der Erde errichtet würde? Sicherlich zu Gott beten. Aber war das tagesfüllend? So etwas machte man vielleicht eine Stunde am Tag, meinetwegen sogar fünf, aber was den Rest des Tages? Andererseits, wenn man ohnehin vollkommenglücklich war, und das sollte man ja in diesem Himmelreich auf Erden sein, dann war es ja auch egal, wie man seine Zeit verbrachte. Da konnte man einfach nur Wolken ansehen, an Blumen schnuppern oder den ganzen Tag an den Füßen spielen, und dennoch wäre man total happy. Klang ein bisschen so wie Dauer-bekifft-Sein. Ich überlegte, ob ich Jesus danach fragen sollte, ließ es aber bleiben.
Vielleicht sollte ich ihm einfache Leute zeigen, die gute Menschen waren, aber leider kannte ich niemanden vom Kaliber Ghandi in meiner Umgebung. Auf der anderen Seite: Die meisten Menschen waren doch auch ganz anständig. Wir hatten in Malente keine Diktatoren, Mörder oder Callcenter-Betreiber. Und das letzte Mal wurde im Mittelalter ein Nachbardorf gebrandschatzt. Aber ich hatte Zweifel, ob das reichte. Sollte ich zu Jesus sagen: Du, die Menschen haben ein Weiterleben verdient, weil die meisten weder richtig gut noch böse, sondern einfach nur durchschnittlich sind? Das schien mir doch eher ein schwaches Argument gegen Gottes Plan, die Menschheit für alle Ewigkeiten in Gut und Böse zu unterteilen. Ich seufzte tief.
«Warum seufzt du?», fragte Jesus mich.
«Seufz», war meine geseufzte Antwort.
«Du weißt nicht, wie du mich überzeugen sollst», stellte Jesus fest.
«Doch, doch, klar weiß ich das», antwortete ich wenig überzeugend.
«Du weißt es nicht», lächelte er freundlich, fast liebevoll.
Dennoch machte mich das Lächeln sauer, fühlte ich mich doch ertappt. Ich konnte es noch nie ausstehen, wenn ein Mann, für den ich Gefühle hatte, mich bei einer Schwäche ertappte. Da war es auch egal, ob dieser Mann Jesus war oder nicht.
«Du bist wütend auf mich», stellte er nun überrascht fest.
«Und du bist ein Meister des Offensichtlichen», antwortete ich, eine Spur zu scharf.
«Was ist der Grund für deinen Zorn?», wollte Jesus wissen.
«Nun, die meisten Menschen sind weder gut noch böse, sondern einfach nur durchschnittlich», erklärte ich ihm, «aber das reicht ja wohl nicht, um dich zu überzeugen.»
Er schwieg und schien sich Gedanken zu machen, er wollte wohl nicht, dass ich wütend auf ihn war. Schließlich fragte er: «Darf ich dir einen Vorschlag unterbreiten?»
Ich blickte ihn überrascht an, mein Zorn verflog nun tatsächlich.
«Zeige mir, dass diese, wie du sie nennst, durchschnittlichen Menschen das Potenzial zum Guten haben und es auch ausschöpfen wollen.»
Hmm … nett, dass er das vorschlug. Aber wie sollte ich Jesus zeigen, dass die Menschen ihr Potenzial ausschöpfen konnten? Sollte ich eine kleine Vollversammlung im Malenter Bürgerhaus einberufen und sagen: «Hey, Leute, jetzt reißt euch mal zusammen und hört mal auf mit dem ständigen Ehebrechen und mit dem Steuerhinterziehen, und an eurer Stelle würde ich auch nicht mehr so häufig ‹Himmel, Arsch und Zwirn› rufen»?
Ich seufzte also wieder.
«Kann ich dir noch einen Vorschlag unterbreiten?», fragte Jesus.
Ich nickte.
«Zeig mir anhand nur einer Person, dass die
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