Jesus liebt mich
wusste aber nicht, ob es wirklich gut war. Ich hoffte so sehr, dass ich den Mund nicht zu voll genommen hatte. Beinahe hätte ich vor lauter Angst zu Gott gebetet, doch im letzten Moment besann ich mich, dass Gott und ich in diesem Moment nicht gerade die gleichen Ziele verfolgten.
Jesus und ich standen uns nun schweigend gegenüber. Am liebsten hätte ich den Abend mit ihm verbracht, so wie den gestrigen, aber das war nicht mehr möglich, viel zu viel war geschehen. Unmöglich, in ihm jemals nochmal den Salsa-Joshua zu sehen.
Ich verabschiedete mich schweren Herzens und hatte den Eindruck, dass es auch ihm nicht leichtfiel, sich von mir zu trennen. Zu Hause angekommen, war ich zuerst einmal erleichtert, dass mein Vater nicht ein Foto von mir an die Tür gehängt hatte, mit der Aufschrift «Wir müssen leider draußen bleiben».
Ich ging ins Haus, sah, dass das kleine Mädchen bereits im Wohnzimmer auf der Couch schlief, und hörte leise Sexgeräusche aus dem Schlafzimmer meines Vaters. Für einen kurzen Moment wünschte ich mir, dass das Jüngste Gericht sofort losginge.
Kata kam mir vom Klo entgegen. Bevor ich sie begrüßen konnte, hörte ich, wie Papa stöhnte, er klang dabei ein bisschen wie ein wildes Pferd.
«Komm in mein Zimmer, da hört man den Hengst nicht», bot Kata an.
«Dann ist es ein wunderschöner Ort», antwortete ich und verschwand mit ihr in das Refugium der Stille. Kata aber wirkte ganz verunsichert.
«Ist was?», fragte ich sie.
«Ich … hab Angst.»
Meine Schwester gab zu, dass sie Angst hatte? Die Welt schien tatsächlich verrückt zu spielen.
«Wovor?», fragte ich.
«Ich … ich habe keine Schmerzen mehr.»
«Ich … ich denke, du hast keinen Tumor.»
«Doch, den habe ich.»
Es traf mich wie ein Schlag.
«Aber jetzt habe ich keine Schmerzen mehr, als ob er weg ist. Und ich hab tierischen Schiss.»
«Weil du Hoffnung hast, dass er weg ist, und du nicht enttäuscht werden willst?»
«Nein, weil ich bald sterben werde.»
Bei dem ersten Ausbruch des Tumors vor fünf Jahren war in Katas Augen stets Kampfesmut zu sehen, doch jetzt war es nur noch blanke Furcht. Und die machte mir Angst.
«Ich … will nicht …», sagte sie leise, das Wort «sterben» sprach sie schon gar nicht mehr aus.
Ich nahm sie in den Arm. Und sie ließ es sich tatsächlich gefallen.
Viele Fragen schossen durch meinen Kopf: Wenn die Ärzte den Tumor gefunden hatten, warum hatte Jesus ihn dann nicht gesehen? Oder bildete sie sich den Tumor nur ein? Aber warum sollte sie das tun? Und wieso hatte Kata diesen Comicstrip gezeichnet, den ich da gerade auf dem Boden entdeckte?
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Warum tauchte auf einmal Satan in Katas Strips auf? Und warum hielt sie ihn für überlegen? Hatte sie Angst, in die Hölle zu kommen? Sie glaubte doch gar nicht an ein Leben nach dem Tode? Sollte ich ihr sagen, dass es das doch gibt? Und mit ihr über Jesus reden? Auch über das, was kommen soll? Oder würde ich ihr damit noch mehr Kummer bereiten, war sie doch ein heißer Kandidat für das ewige Inferno?
Bevor ich den Mund öffnen konnte, spürte ich eine Träne auf meiner Wange. Kata weinte. Es war das erste Mal, dass ich die erwachsene Kata weinen sah. Es zerriss mir fast das Herz. Ich drückte sie noch fester an mich und beschloss, sie nicht mit dem Wahnsinn, der mich umgab, zu belasten. Plötzlich war sie die Kleine und ich die Große, die sie beschützte.
41
Nachdem Kata sich schlafen gelegt hatte, ging ich in mein Zimmer. Dass sie wieder krank war, machte mich fertig, aber ich musste nicht heulen, ich hatte ja Vitamin B und hoffte, dass Jesus sie heilen könnte. Doch dazu musste ich ihn sicherlich erst mal überzeugen, dass die Menschen – also auch Kata – noch eine Chance verdient hatten. Es stand also immer mehr auf dem Spiel.
Ich holte aus meiner Tasche meine Bibel heraus, und während ich auf dem Bett liegend die Bergpredigt suchte – diese Bibel bräuchte mal ein ordentliches Inhaltsverzeichnis –, blieb ich an anderen Stellen hängen und erfuhr so zum Beispiel, dass «Sheba» nicht nur ein Katzenfutter war und was für eine Sünde Onan genau begangen hatte (in dieser Bibel gab es mehr Sex and Crime als bei RTL2). Als ich die Predigt dann endlich bei Matthäus gefunden hatte, war ich so aufgeregt, dass ich erst mal eine Weile im Fernseher zappte – ich hatte einfach zu viel Angst davor, was da an Anforderungen an mich gestellt werden würden. In der
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