Jesus liebt mich
Menschheit das Potenzial zum Guten hat.»
Er kam mir wirklich unglaublich entgegen, man konnte fast den Eindruck bekommen, dass er unbedingt von mirüberzeugt werden wollte. So als ob er wirklich Zweifel hatte, dass das Ganze mit dem Jüngsten Gericht eine gute Idee sei.
Eine Person sollte also den Beweis führen, das war okay, das konnte ich vielleicht schaffen. Doch welche Person sollte ich nehmen? Kata? Wohl eher nicht, sie würde sicher die meiste Zeit damit beschäftigt sein, Jesus zu erklären, dass erst mal Gott selbst beweisen solle, dass er das Potenzial zum Guten hatte. Meinen Vater vielleicht? Nun, der war auf mich zurzeit ungefähr so gut zu sprechen wie der Papst auf Kondomfabrikanten. Mama war auch keine gute Idee, war sie doch – so hatte sie mir gesagt – mit Jesu Kumpel Pastor Gabriel nur zusammen, weil sie Trost suchte. Vielleicht Swetlana? Die war sicherlich dankbar, dass Jesus ihre Tochter geheilt hatte. Vielleicht war sie sogar so dankbar, dass sie darauf verzichtete, meinen Vater auszunutzen, und ich konnte damit Jesus zeigen, dass sie das Potenzial zum Guten hatte? Sollte ich es mit Swetlana riskieren? Das Schicksal der Welt der Frau aufbürden, die ich Wodka-Nutte genannt hatte?
In diesem Augenblick sah ich mein zweifelndes Gesicht im Wasser spiegeln, und zwei Gedanken schossen durch meinen Kopf: Warum sehen meine Haare immer so scheiße aus?, und: Wie wäre es, wenn ich die Person bin?
Das war eine Idee, immerhin gab es weit und breit keine durchschnittlichere Person als mich.
Ich wandte mich an Jesus und erklärte ihm, dass ich selbst den Beweis antreten würde. Lang und ausführlich schilderte ich, wie ich bereits einen Haufen der Zehn Gebote erfüllte und dass ich bis zum morgigen Abend auch noch den Rest schaffen würde: Ich würde meine beiden Eltern ehren und nicht mehr die Dinge von anderen begehren. Jesus hörte sich geduldig meinen Redeschwall bis zum Ende an und erklärtedann ganz ruhig: «Die Zehn Gebote reichen nicht für ein gerechtes Leben.»
Au Mann, im Zusammenhang mit Gott war wohl gar nichts einfach!
«Und, was muss man sonst noch erfüllen?», fragte ich. «Ich meine, du erzählst mir doch jetzt hoffentlich nicht, dass ich irgendeiner Frau, die einen Mann bei einem Streit in die Schamteile greift, die Hand abhacken soll?»
Jesus lächelte: «Du hast das Deuteronomium gelesen.»
Er hielt mich für deutlich bibelfester, als ich es war.
«Keine Sorge», erklärte Jesus, «viele Regeln der Bibel braucht man nicht zu befolgen. Man muss nur im Geiste Gottes leben.»
«Und das heißt übersetzt?»
«Alles, was du über ein gerechtes Leben wissen musst, habe ich in meiner Bergpredigt verkündet.»
Die Bergpredigt. Auweia! Von der hatte ich natürlich schon mal gehört. Bei Gabriel hatten wir sie im Konfirmandenunterricht durchgenommen, aber ich war vor lauter Liebeskummer die ganze Zeit zu sehr damit beschäftigt, Zeichnungen auf meinen Block zu kritzeln, in denen mein Exfreund von den Zehn Plagen nach allen Regeln der Kunst heimgesucht wurde – besonders gerne ließ ich ihn von den Heuschrecken auffressen. Wenn man mich daher jetzt gefragt hätte, was in der Bergpredigt drinsteht, hätte ich es nicht mal beantworten können, wenn mein Leben davon abhing oder, wie in diesem Fall, die Existenz der Welt.
«Du kennst doch den Inhalt der Bergpredigt?», fragte Jesus sanft.
Ich grinste leicht debil.
«Du kennst ihn nicht?»
Ich grinste noch debiler.
«Ich dachte, du kennst die Bibel», sagte Jesus nun betont streng.
«Frddl.»
Gegenüber Jesus zuzugeben, dass man die Bibel nicht kennt, ist ähnlich unangenehm, wie dem Vater zu beichten, dass man die Pille nimmt, und das schon seit zwei Jahren, obwohl man erst sechzehn Jahre alt ist. Aber ich rang mich zu dem tapferen Geständnis durch: «Du … du hast recht. Ich hab keine Ahnung, was du dort erzählt hast.»
Bevor Jesu Kinnlade enttäuscht sinken konnte, erklärte ich hastig: «Aber wart es ab, bis morgen Abend lebe ich nach ihren Regeln, und dann wirst du schon sehen, dass wir Menschen die Kraft und die Möglichkeit haben, selbst eine bessere Welt zu erschaffen.»
Jesus lächelte mich etwas entrückt an, war er von meinem leidenschaftlichen Vortrag etwa beeindruckt?
Oder gar von mir?
«Ist etwas?», fragte ich vorsichtig.
Ein Ruck ging durch Jesus, er riss sich sichtlich zusammen und erklärte mit bemüht fester Stimme: «Ich bin einverstanden mit deinem Vorschlag.»
«Das ist gut», erwiderte ich,
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