Jesus liebt mich
alle von meiner Mutter, die in den letzten zehn Jahren nicht so oft angerufen hatte wie in dieser einen Nacht. Erschrocken und voller Sorge rief ich sie sofort an und hörte am anderen Ende ein tränenersticktes «Hallo?».
«Ist was passiert?», fragte ich unbeholfen.
Ich hörte nur ein Schweigen und dann ein Schluchzen und schließlich ein total verheultes: «Gbrllissstttllllvrrcückt.»
«Grill ist total bestückt?»
«Gabriel!», schluchzte sie auf.
«Gabriel ist total bestückt?»
Was ging mich das an?
«Gabriel ist total verrückt!»
Na, das machte schon mehr Sinn. Ich bat meine Mutter, sich zu beruhigen, sie tat es leider nicht und heulte weiter. Ich versuchte, möglichst einfühlsam mit ihr zu reden: «Es ist gut, wenn du deinen Gefühlen freien Lauf lässt.»
«Komm mir jetzt nicht mit Psychogebrabbel!», schnauzte sie mich an.
«Dann hör auf zu flennen!», blaffte ich zurück. Das mitdem «einfühlsam» musste ich noch üben. Aber mein Anschnauzen zeigte Wirkung: Mama hörte auf zu heulen. Sie entschuldigte sich und erzählte mir so ruhig wie möglich von Gabriel, dass sie jetzt Gefühle für ihn habe, was nicht zuletzt daran liege, dass wir uns versöhnt hätten und sich dadurch Blockaden bei ihr lösten und dass Gabriel sie nun weggeschickt habe, weil er glaubte, sie sei des Satans.
«Das ist alles nur eine Ausrede, weil er Bindungsangst hat», schnaubte sie wütend. «Satan. Ich bitte dich. Den gibt es genauso wenig wie einen Gott.»
«Oder genauso sehr», schluckte ich.
«Was?», fragte meine Mutter verblüfft.
«Ähem … vergiss es.»
Sie schluchzte nun wieder auf. Mann, Gabriel konnte vielleicht froh sein, dass ich nicht wie Jesus in der Lage war, ihn verdorren zu lassen. Kaum aber hatte ich diesen Vernichtungsgedanken zu Ende gebracht, war ich schon erschrocken. Nicht, weil ich ein schlechtes Gewissen hatte, so etwas zu denken, sondern weil in der Bergpredigt sinngemäß stand, dass es genauso übel ist, jemandem den Tod zu wünschen, wie ihn direkt zu töten. Na, das mit dem Umsetzen der Bergpredigt fing ja toll an.
«Ich werde mal mit Gabriel reden», bot ich Mama an.
«Das würdest du für mich tun?»
«Klar», antwortete ich. Wenn ich schon dabei war, die Welt zu retten, könnte ich das doch auch mit der neuen Liebe meiner Mutter tun.
Nachdem ich aufgelegt hatte, zog ich mich an, ging die Treppen runter und traf im Flur auf Swetlana. Jetzt galt es, würde ich es schaffen, sie zu lieben? Ich sah in ihre Augen, die umrandet waren von einem Flitter-Make-up, das außerihr eigentlich nur noch Transvestiten oder Revuetänzer bei «Holiday on Ice» trugen (wobei es sicherlich eine Schnittmenge dieser beiden Gruppen gab). Ich fragte mich, was ich mit dieser Frau tun könnte, von dem ich wollte, dass man es auch mit mir tat.
«Swetlana, wir haben in unserem Kaff ein schickes Café mit einem Superfrühstück, wollen wir da frühstücken gehen?», fragte ich schließlich.
«Wie bitte?» Swetlana war sichtlich irritiert, wenn nicht gar misstrauisch.
«Das wird bestimmt ein netter Tochter-Stiefmama-Vormittag», versuchte ich zu scherzen. Swetlana, die die Absurdität unserer zukünftigen Familienkonstellation sichtlich komischer fand als ich, musste lächeln und antwortete: «Einverstanden.»
Kurz darauf saßen wir in Malentes schickstem Café, und der Koch bereitete ihr vor unseren Augen ein Prachtomelett mit Schinken, Tomaten und Lauch zu. Noch stellte sich bei mir kein positives Gefühl zu ihr ein, geschweige denn Liebe, obwohl ich Swetlana so behandelte, wie ich wollte, dass man mich selbst behandelt. Aber höchstwahrscheinlich reichte Essen und Trinken dafür nicht aus. Was würde ich denn selbst noch wollen? Dass man sich für mich interessiert! Also versuchte ich mich für Swetlana zu interessieren: «Es … ist sicher schwer, in Weißrussland ein Kind allein aufzuziehen.»
«Das ist überall schwer», erwiderte sie.
Ich nickte zustimmend und dachte an die deutschen Augenringezombiemütter.
«Aber für mich war es besonders schwer, weil ich auch noch einen kranken Vater mitversorgen musste», erklärte Swetlana. «Deswegen habe ich auch im Akkord gearbeitet.»
«In der Fabrik?», fragte ich und biss in ein wunderbares Schokocroissant.
«Im Bordell», antwortete sie, und ich verschluckte mich an dem wunderbaren Schokocroissant.
Als ich zu Ende gehustet hatte, sagte sie leise: «Dein Vater weiß es schon. Und du sollst es auch ruhig wissen.»
Am liebsten hätte
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