Jesus liebt mich
ich sofort das Gespräch beendet, aber das hätte sicherlich Bergpredigt-Minuspunkte gebracht. Also, was sollte ich tun? Mitgefühl zeigen? Hätte ich an ihrer Stelle nicht gewollt. Verständnis? Das schon eher.
«Okay, klingt nicht einfach …», stammelte ich. Sehr viel mehr Verständnis konnte ich für ihre Vergangenheit gerade nicht aufbringen.
«Ich hab dich nicht angelogen. Für mich ist dein Vater ein wunderbarer Mann. Noch nie war ein Mensch so gut zu mir.» Ihr Blick war ganz klar, wirkte aufrichtig. Und sie hatte immerhin ihre üble Vergangenheit zugegeben, das würde eine unredliche Frau wohl kaum tun. Ich entschied, ihr das zu geben, was ich mir in so einer Situation auch am meisten gewünscht hätte: Vertrauen.
«Es wäre schön, wenn du ihn glücklich machst», erklärte ich.
«Das werde ich versuchen», sagte sie, und es klang ehrlich.
Dann aßen wir unsere Omeletts. Am Ende des Frühstücks verstanden wir beide uns halbwegs. Und wir respektierten uns. Aber Swetlana zu lieben, das hatte ich nicht geschafft. Dennoch fand ich, dass meine Bemühungen zumindest ein anerkennendes «Immerhin» wert waren.
Ich wollte zu Joshua gehen, um ihn zu fragen, ob er meine Einschätzung teilte (und weil ich ihn vermisste und diese Frageein guter Vorwand war, um ihn zu treffen). Doch schon auf dem Weg vor dem Pfarrhaus kam mir der sehr aufgewühlte Gabriel entgegen.
«Halt dich von ihm fern!», rief er mir schon von weitem zu und wirkte dabei ein bisschen wie ein Exorzist in Horrorfilmen aus den siebziger Jahren.
«Ihnen auch einen schönen guten Tag», erwiderte ich genervt.
«Halte dich von ihm fern!», wiederholte er drohend.
«Ich bin nicht des Satans», erklärte ich ihm so ruhig wie möglich.
«Genau das würde jemand sagen, der mit Satan im Bunde ist», zürnte er mit einer nicht gerade leicht zu widerlegenden Logik.
«Wie kann ich Ihnen beweisen, dass ich mit Satan nichts zu tun habe?»
«Indem du dich von Jesus fernhältst.»
«Das will und kann ich nicht», erwiderte ich.
Er blickte mich böse an, und für einen Augenblick hatte ich die Befürchtung, dass er gleich mit Kreuz und Weihwasserspritzpistole auf mich losgehen würde.
«Sie haben meiner Mutter sehr wehgetan», erklärte ich nun in einem ruhigeren Ton.
Das ließ Gabriel erst mal verstummen, und ich überlegte, wie ich ihm laut «Goldener Regel» begegnen konnte. Ich versuchte es wieder mit Verständnis, das hatte ja bei Swetlana auch geholfen: «Ich kann verstehen, dass Sie in so einer Zeit Angst haben, aber meine Mutter ist …»
«Halt den Mund!»
«Aber …»
«Halt den Mund!»
Ich hatte Schwierigkeiten, meinen Zorn zu unterdrücken.Wie konnte ich Gabriel beruhigen? Was hätte ich denn an seiner Stelle gewollt?
«Wollen Sie einen Korn?», schlug ich unsicher vor.
Er blickte mich nun noch wütender an.
«Was wollen Sie denn dann von mir?»
«Dass du zur Salzsäule erstarrst.»
«Sie leben nicht gerade nach der Bergpredigt!», motzte ich zurück.
«Erzähl du mir nicht, wie man den wahren Glauben lebt.»
«Wenn Sie es doch nun mal nicht tun …»
«Verschwinde!»
«Ich denke gar nicht dran!»
«Verschwinde, es ist zu deinem eigenen Besten», insistierte er.
«Was zu meinem Besten ist oder nicht, weiß ich wohl am besten», hielt ich sauer dagegen.
«Du weißt gar nichts, du bist ein dummes, naives Kind!»
«Und Sie sind ein starrköpfiger, nerviger Greis!», platzte es aus mir heraus.
«Wie hast du mich genannt???»
«Ich hab Sie starrköpfigen, nervigen Greis genannt, Sie verbohrter alter Sack!»
Gabriel und ich standen uns Aug’ in Aug’ gegenüber.
In diesem Augenblick hörte ich eine Stimme hinter mir sagen: «Marie?»
Ich drehte mich erschrocken um und sah Jesus. Er hatte alles mit angehört, war aber nicht sauer auf mich, sondern nur enttäuscht. Tief enttäuscht. Ich schluckte, wusste nicht, was ich ihm sagen sollte, und so ergriff Gabriel als Erster das Wort: «Herr …»
«Lass uns bitte allein», bat Jesus.
«Aber …»
«Bitte.» Jesus sagte es ruhig, aber so bestimmt, dass Gabriel nicht mehr widersprechen mochte. Er sah mich nur noch kurz mit wütend blitzenden Augen an und trollte sich dann ins Pfarrhaus.
«Wollen wir etwas spazieren gehen?», fragte Jesus, und ich nickte stumm.
Wir beide gingen schweigend vom Pfarrhaus weg. Fast automatisch führte uns der Weg zu unserem Stammplatz am See. Als wir uns auf den Steg setzten, beendete Jesus endlich das drückende
Weitere Kostenlose Bücher