Jesus liebt mich
fühlten.
«Er wird heute Nachmittag nach Jerusalem abreisen», sagte Gabriel und zerstörte meine Hoffnung.
Um nicht gleich wieder loszuflennen, fragte ich, was er hier wolle.
«Mich bei dir entschuldigen», antwortete Gabriel. «Du bist nicht des Satans, sonst hättest du Jesus nicht ziehen lassen. Es tut mir leid.»
«Schon gut», antwortete ich, ich war viel zu matt, um noch sauer auf ihn zu sein.
«Und deiner Mutter habe ich auch schweres Unrecht angetan.» Gabriel war nun sehr zerknirscht. «Kannst du bei ihr vielleicht ein gutes Wort für mich einlegen?»
«Ich glaube, das müsste eher ein ganzer guter Wortschwall sein.»
Gabriel nickte zustimmend, dann druckste er etwas herum und sagte schließlich: «Da gibt es noch etwas, was du wissen musst und sie auch wissen sollte.»
«Und was?»
«Ich bin ein Engel.»
«Das ist nicht gerade bescheiden von Ihnen.»
«Ich meine, ich bin ein echter Engel», klärte er mich auf. «Der Erzengel Gabriel, zum Menschen geworden.»
Vor ein paar Tagen noch hätte ich darauf wohl nur «Tri-tra-trullala» geantwortet. Aber inzwischen konnte mich nichts mehr umhauen. Und wenn man genauer darüber nachdachte, war es die Erklärung für viele Dinge: für Gabriels Narben auf dem Rücken, dafür, dass Jesus bei ihm übernachtete, und für dessen Behauptung, Gabriel habe einst Maria seine Geburt verkündet.
«Müssten Sie nicht mit den himmlischen Heerscharen an Jesu Seite in Jerusalem kämpfen?», fragte ich.
«Schon, obwohl ich jetzt ein Mensch bin, wäre dies meine Pflicht.»
«Aber …?»
«Ich widersetze mich ihr. Ich will bei Silvia sein und für sie sprechen, wenn sie vor Gott tritt.»
Auf mein Erstaunen hin erklärte er mir, dass er wegen meiner Mutter Gott einst gebeten hatte, Mensch zu werden, und dann all die Jahrzehnte vergeblich auf ein Zeichen der Liebe von ihr gehofft hatte. Ich war gerührt, als ich das hörte, es war so romantisch von ihm, so bezaubernd, natürlich auch komplett dämlich, aber das ist das romantische Tun doch meistens.
Ich ertappte mich dabei, dass ich auf einmal neidisch auf meine Mutter wurde, da Gabriel für die Liebe zu ihr seinem Gott den einstmals geflügelten Rücken gekehrt hatte.
Ich überredete meine Mutter am Telefon, sich mit Gabriel zu treffen. Ihn bat ich, die Geschichte seiner Herkunft bis zum Ende der Welt für sich zu behalten, vorher würde sie ihm sicher nicht glauben und sich von ihm veräppelt fühlen.
Gabriel teilte diese Einschätzung und entschuldigte sich daher bei meiner Mutter für sein Verhalten, ohne von seinem Geheimnis zu erzählen. Danach saßen die beiden auf meinem Jugendbett eine Weile stumm nebeneinander wie zwei verunsicherte Teenager. Lange. Viel zu lange, wie ich nach einer Weile fand, denn in diesen Zeiten hatte man keinen Moment des Lebens mehr zu vergeuden. Daher rutschte mir heraus: «Na los, küsst euch doch!»
Beide lachten verlegen, dann nahm sich meine Mutter ein Herz und gab Gabriel einen Kuss. Der war erst etwas verunsichert, schließlich stand ich ja noch im Raum, aber meine Mutter drückte ihre Lippen so stark auf die seinen, dass er gar nicht anders konnte, als zurückzuküssen. Lange. Viel zu lange, wie ich nach einer Weile fand, zumal die beiden mich wohl mittlerweile vergessen hatten und auch noch anfingen, sich zu befummeln. Ich dachte bei mir: Hey, das ist echt ein Superaugenblick, um zu verschwinden, wandte mich zur Türund wollte raus, doch da stand Papa. Und er sah seine Exfrau beim Petting.
«Silvia?», fragte er erstaunt.
Die beiden auf dem Bett hörten auf, sich zu küssen, und sahen ertappt zu ihm. Es gibt Augenblicke, da wäre ich gerne Speedy Gonzales, die schnellste Maus von Mexiko.
Ich erwartete, dass Papa gleich mal einen zünftigen Amoklauf hinlegen würde, schließlich hatte er meiner Mutter über zwanzig Jahre nachgetrauert. Doch nichts dergleichen geschah. Er lächelte stattdessen und sagte: «Scheint so, als ob wir beide unser Glück gefunden hätten.»
Mama lächelte zurück: «Ja, das haben wir wohl.»
Komisch, bis vor zwei Tagen noch hatte ich mir insgeheim gewünscht, dass meine Eltern wieder zusammenkommen, aber jetzt war ich überglücklich, dass sie sich nicht mehr stritten und sich die neuen Partner gönnten. Ja, es sah so aus, als ob ich vielleicht doch noch erwachsen würde, gerade noch rechtzeitig vor dem Weltuntergang.
Mein Vater lud uns zu Kohl und Pinkel in der heimischen Küche ein und kündigte an, später noch in der
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