Jesus von Nazaret
frommer, gerechter und heiliger leben als die Masse der Menschen. 47 Wer in diese auserwählte Gemeinde aufgenommen werden wollte, musste seine Familie und sein früheres Leben hinter sich lassen und eine jahrelange Probezeit bestehen. Erst dann wurde er ein vollwertiges Mitglied der heiligen Bruderschaft. Er war verpflichtet, sein Vermögen an die Gemeinschaft abzutreten, sich den strikten Ordensregeln zu unterwerfen und zu schwören, nichts über die Gemeinde an AuÃenstehende zu verraten. Wer gegen die Regeln verstieÃ, der musste mit drastischen Strafen rechnen. Schlimmstenfalls wurde er aus dem Orden ausgestoÃen. Da er aber auch dann noch an seinen Eid gebunden war, durfte er von Fremden keine Nahrung annehmen, was meistens einem Todesurteil gleichkam.
Mit dem Eid, den jedes neue Mitglied der Bewegung ablegen musste, verpflichtete es sich auch, wie es in den Ordensregeln heiÃt, »alle Söhne des Lichtes zu lieben [â¦] und alle Söhne der Finsternis zu hassen«. Damit verbunden war der Glaube, dass das Ende der Zeit nahe bevorstehe und es bald zu einem heiligen Krieg kommen werde, bei dem die Kinder des Lichtes mithilfe von Engeln die Kinder der Finsternis, auf deren Seite der Teufel kämpft, besiegen. 48
Keine zwanzig Kilometer entfernt von Qumran lag die Stelle am Jordan, wo Johannes der Täufer wirkte. Johannes hat vermutlich die Leute von Qumran gekannt oder zumindest von ihnen gehört. Man hat sogar gemutmaÃt, ob nicht Johannes als Kind in der Gemeinschaft von Qumran erzogen worden ist. Als Beleg für diese Vermutung führte man an, dass auch die Ansichten des Johannes so radikal waren wie die der Essener. Wie sie drohte er mit einem baldigen Gericht und er verlangte von den Menschen eine Umkehr ohne Wenn und Aber. »Ihr Schlangenbrut«, so fährt er im Matthäusevangelium die Schriftgelehrten und Priester an, »wer hat euch denn gelehrt, dass ihr dem kommenden Gericht entrinnen könnt?« (Mt 3,7)
Anders als die Leute von Qumran aber war Johannes ein Einzelgänger und seine Botschaft richtete sich auch an jeden Einzelnen. Zornig reagierte er, wenn Menschen zu ihm kamen und meinten, sie führten ein gottgefälliges Leben, nur weil sie einer Gruppe angehörten oder sich zu einer Tradition bekannten. Und schon gar nicht konnte er es ertragen, wenn Leute religiöse Floskeln von sich gaben und sich darum für fromm hielten. Das alles waren für Johannes Ausflüchte, um sich moralisch selbst zu beruhigen und sich hinter einem Kollektiv zu verstecken. Vor Gott aber zählte für Johannes immer nur der Einzelne. Seine Entscheidungen, sein persönliches Leben musste er vor Gott verantworten, und die Frage, welchemVolk er angehörte oder welcher sozialen oder religiösen Gruppe, das war hier völlig belanglos. Schlimmer als von Menschen abgelehnt zu werden, war für Johannes, von Gott entfremdet zu sein und vor ihm seine Schuld bekennen zu müssen. Vor Gott muss man sich fürchten, nicht vor den Menschen.
Es ist jedoch diese Furcht, die Johannes den Täufer wiederum mit den Aussteigern aus Qumran verbindet. Wie diese malt Johannes das Schreckgespenst eines baldigen Endes und eines Letzten Gerichts an die Wand. Wer sein Leben nicht sofort von Grund auf ändert, wer nicht rückhaltlos seine Sünden bekennt und BuÃe tut, der wird von Gott gnadenlos gerichtet werden. Der Gott, den Johannes mit seinen drastischen Worten heraufbeschwört, ist ein strenger und unerbittlicher Richter. Und die Notwendigkeit, sich zu ändern und umzukehren, soll unter dem Druck der Angst geschehen. Kann man aber mit Angst Menschen ändern?
Johannes scheint es geglaubt zu haben. Und unausgesprochen war damit auch der Glaube verbunden, dass Menschen sich zum Besseren ändern können, wenn sie nur wollen. Dass dieser Glaube an der menschlichen Wirklichkeit vorbeigeht, das hätte Johannes schon zu seiner Zeit beobachten können, und auch in den Jahrhunderten nach ihm hat es sich immer wieder bewahrheitet. Der Dichter Fjodor Dostojewski hat in seinen Romanen Personen geschildert, von denen man sich gutvorstellen kann, dass auch sie schuldbeladen an den Jordan zu Johannes gekommen wären. Es sind Menschen vom Rand der Gesellschaft: Verbrecher, Huren, Versager, Gescheiterte. Bei den Figuren Dostojewskis allerdings hätte Johannes auch mit noch so donnernden BuÃpredigten nichts ausrichten können. Alle Vorwürfe und
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