Jesus von Nazaret
herumirrenden Kind. Doch niemand hatte Jesus gesehen. Auch am nächsten Tag war er nirgendwo zu finden.
Am dritten Tag gingen seine wohl schon ziemlich verzweifelten Eltern wieder in den Tempel, wo sie an den Festtagen ihre Opfer dargebracht hatten. Als sie die marmornen Säulenhallen entlanggingen, wollten sie ihren Augen nicht trauen. Jesus saà da seelenruhig in einem Kreis von Schriftgelehrten und diskutierte mit ihnen. Es war Maria, die erleichtert, aber auch verärgert zu ihrem Sohn ging, ihn streng bei der Hand packte und zu ihm sagte: »Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich voll Angst gesucht.« Jesus sah seine Eltern aber nur verständnislos an und meinte: »Warum habt ihr mich gesucht? Wusstet ihr nicht, dass ich in dem sein muss, was meinem Vater gehört?«
Weder Maria noch Josef verstanden, was er damit sagen wollte. Sein Vater war doch auf dem Heimweg nach Nazaret gewesen und nicht im Tempel! Joseph hätte allen Grund gehabt, den AusreiÃer an den Ohren nach Hause zu schleifen. 33 Doch Jesus hatte anscheinend schon öfter seltsame Dinge gesagt, und so zerbrachen sie sich nicht weiter ihre Köpfe über ihren merkwürdigen Sohn. Hauptsache, sie hatten ihn wieder.
Die Handwerkerfamilie aus Nazaret ist immer wiederals »heilige Familie« verklärt und in der Kunst auch wiederholt so dargestellt worden. Josef, der fleiÃige Zimmermann und treu sorgende Familienvater. Maria, die aufopferungsvolle und zärtliche Mutter. Jesus, der »gehorsame Sohn«. Die Geschichte vom zwölfjährigen Jesus im Tempel passt nicht zu dieser Idylle und bringt einen hässlichen Missklang in das harmonische Familienbild.
Aus der Sicht von Maria und Josef ist es grausam, gedankenlos und egoistisch, wie sich Jesus benimmt. Ist es nicht das Natürlichste der Welt, dass sie sich Sorgen machten, als Jesus verschwunden war? Bisher war Jesus in Nazaret immer in ihrer Nähe gewesen, und wenn er nicht zu Hause war, wussten sie, wo er war, bei Verwandten oder Freunden. Nun war er plötzlich weg. Nicht auszudenken, was ihm alles hätte passieren können. Das Kind allein in dieser groÃen Stadt! Drei Tage suchten sie erfolglos nach ihm und waren vor Sorge und Angst schier verrückt geworden. Und wie reagierte Jesus, als sie ihn endlich im Tempel fanden? Er benahm sich völlig gleichgültig. Er wunderte sich darüber, dass seine Eltern ihn gesucht haben, und er schien sich überhaupt nicht vorstellen zu können, welche Ãngste sie seinetwegen ausgestanden hatten. Und was er seiner Mutter auf ihre Vorwürfe antwortete, war geradezu eine Frechheit, eine Unverschämtheit.
Aus seiner Sicht tat Jesus nur etwas, wozu die Eltern sich schon längst religiös verpflichtet hatten. Als sie ihnbeschneiden lieÃen und ihn mit in den Tempel nahmen, haben sie mit diesen Ritualen erklärt, dass ihr Kind nicht ihnen gehört. Jetzt, da er schon auf der Schwelle zu seiner religiösen Volljährigkeit steht, wollen sie ihn aber nicht loslassen.
Was Jesus macht, das hat der Philosoph Friedrich Nietzsche die »groÃe Loslösung« genannt. Diese Loslösung ist für Nietzsche notwendig für jeden, der ein »freier Geist« werden will, aber sie ist unvermeidlich mit einem schlechten Gewissen verbunden, weil man sich nun gegen das wendet, was man bisher geliebt, was einem bisher Wärme und Sicherheit gegeben hat. »[â¦] ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehen«, schreibt Nietzsche, »irgendwohin, um jeden Preis; eine heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in all ihren Sinnen. âºLieber sterben als hier lebenâ¹Â â so klingt die gebieterische Stimme und Verführung: und dies âºhierâ¹, dies âºzu Hauseâ¹ ist alles, was sie bis dahin geliebt hatte!« 34
Damit der Ausbruch aber gelingt, muss der »Wille zur Freiheit« gröÃer sein als das schlechte Gewissen. Allerdings gibt es für Nietzsche sehr feste, fast unzerreiÃbare Stricke, die einen immer noch an das Alte fesseln. Zu diesen Stricken gehören die »Pflichten«, die »Dankbarkeit« und vor allem die »Liebe«. Es ist eine Liebe, die nicht freilässt, sondern einengt und einen auf fatale Weise gefangen hält, die Nietzsche anprangert. Und darumgehört für ihn zu einer gelungenen Befreiung notwendig auch der »Hass auf die Liebe«.
Diesen Argwohn
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