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Jesus von Nazareth - Band II

Jesus von Nazareth - Band II

Titel: Jesus von Nazareth - Band II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benedikt XVI
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mit denen sie noch einmal ihre ganze Verachtung für ihn zeigen (Mt 27,28ff; Mk 15,17ff; Joh 19,2f).
    Die Religionsgeschichte kennt die Figur des Spottkönigs – der Gestalt des „Sündenbocks“ verwandt. Auf ihn wird alles abgeladen, was die Menschen bedrängt: So soll es fortgeschafft werden aus der Welt. Ohne es zu wissen, vollziehen die Soldaten das, was in jenen Riten undGewohnheiten nicht geschehen konnte: „Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm; durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53,5). Als diese Spottgestalt wird Jesus zu Pilatus geführt, und Pilatus stellt ihn der Menge – der Menschheit – vor: „Ecce homo – seht den Menschen“ (Joh 19,5). Der römische Richter ist wohl erschüttert über die geschlagene und verhöhnte Gestalt dieses geheimnisvollen Angeklagten. Er zählt auf das Mitleid derer, die ihn sehen.
    „Ecce homo“ – das Wort erhält von selbst eine über den Augenblick hinausreichende Tiefe. In Jesus erscheint der Mensch überhaupt. In ihm erscheint die Not aller Geschlagenen, Zerschundenen. In seiner Not spiegelt sich die Unmenschlichkeit menschlicher Macht, die den Machtlosen so niedertritt. In ihm spiegelt sich, was wir Sünde nennen: wie der Mensch wird, wenn er sich von Gott abwendet und die Weltherrschaft selbst in die Hände nimmt.
    Aber auch das andere gilt: Seine innerste Würde kann Jesus nicht genommen werden. Der verborgene Gott bleibt in ihm gegenwärtig. Auch der geschlagene und erniedrigte Mensch bleibt Bild Gottes. Seit Jesus sich schlagen ließ, sind gerade die Verwundeten und Geschlagenen Bild des Gottes, der für uns leiden wollte. So ist Jesus mitten in seiner Passion Bild der Hoffnung: Gott steht auf Seiten der Leidenden.
     
    Am Ende setzt sich Pilatus auf den Richterstuhl. Noch einmal sagt er: „Seht euren König!“ (Joh 19,14). Dann spricht er das Todesurteil.
    Zwar war ihm die große Wahrheit, von der Jesus gesprochen hatte, unzugänglich. Aber die konkrete Wahrheit dieses Falls kannte er genau. Er wusste, dass dieserJesus kein politischer Verbrecher war und dass das von ihm beanspruchte Königtum keine politische Gefahr darstellte – dass er also freizusprechen war.
    Als Präfekt vertrat er das römische Recht, auf dem die Pax Romana beruhte – der Friede des die Welt umspannenden Reiches. Dieser Friede war zum einen durch die militärische Macht Roms gesichert. Aber durch militärische Macht allein kann man keinen Frieden herstellen. Friede beruht auf Gerechtigkeit. Die Stärke Roms war sein Rechtssystem, die Rechtsordnung, auf die die Menschen sich verlassen durften. Pilatus – wiederholen wir es – kannte die Wahrheit, um die es in diesem Fall ging, und wusste daher, was die Gerechtigkeit von ihm verlangte.
    Aber am Schluss siegte in ihm die pragmatische Auffassung des Rechts: Wichtiger als die Wahrheit des Falls ist die friedenstiftende Kraft des Rechts, mochte er denken und sich innerlich rechtfertigen. Eine Freisprechung des Unschuldigen konnte nicht nur ihm persönlich Schaden bringen – die Furcht davor war gewiss ein entscheidendes Motiv seines Handelns –; sie konnte auch weiteren Ärger und Unruhen hervorrufen, die gerade in den Pascha-Tagen vermieden werden mussten.
    Der Friede ging ihm in diesem Fall über die Gerechtigkeit. Nicht nur die große, unzugängliche, sondern auch die konkrete Wahrheit des Falls musste zurücktreten: So glaubte er, den eigentlichen Sinn des Rechts zu erfüllen – seine friedenstiftende Funktion. So mochte er sein Gewissen beruhigen. Im Augenblick schien alles gutzugehen. Jerusalem blieb ruhig. Aber dass der Friede letztlich nicht gegen die Wahrheit geschaffen werden kann, sollte sich später zeigen.

8.   KAPITEL
KREUZIGUNG UND
GRABLEGUNG JESU
     

VORÜBERLEGUNG: WORT UND EREIGNIS IM PASSIONSBERICHT
     
     
    A lle vier Evangelisten erzählen uns von den Stunden des leidenden Jesus am Kreuz und von seinem Tod – übereinstimmend in den großen Linien des Geschehens, aber mit unterschiedlichen Akzentuierungen in den Details. Das Besondere an diesen Berichten ist, dass sie angefüllt sind mit Anspielungen und Zitaten aus dem Alten Testament: Wort Gottes und Ereignis durchdringen einander. Die Fakten sind gleichsam mit Wort – mit Sinn – angefüllt; und auch umgekehrt: Was bisher nur Wort – oft unverständliches Wort – gewesen war, wird Wirklichkeit, und so erst erschließt es sich.
    Hinter dieser besonderen Weise des Erzählens steht ein Prozess des Lernens, den die werdende Kirche

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