Jesus von Nazareth - Band II
der Tat sagt beispielsweise Francis S. Collins, der das
Human Genome Project
leitete, mit freudigem Erstaunen: „Die Sprache Gottes war entschlüsselt“ (
The Language of God
, S. 99). Ja wirklich, in der großartigen Mathematik der Schöpfung, die wir im genetischen Code des Menschen heute lesen können, vernehmen wir die Sprache Gottes. Aber leider nicht die ganze Sprache. Die funktionelle Wahrheit über den Menschen ist sichtbar geworden. Aber die Wahrheit über ihn selbst – wer er ist, woher er kommt, was er soll und was das Gute ist oder das Böse – die kann man leider auf solche Weise nicht lesen. Mit der wachsenden Erkenntnis der funktionellen Wahrheit scheint vielmehr eine zunehmende Erblindung für „die Wahrheit“ selbst Hand in Hand zu gehen – für die Frage nach dem, was wir wirklich sind und was wir wirklich sollen.
Was ist Wahrheit? Diese Frage hat nicht nur Pilatus als unlösbar und für seine Aufgabe unpraktikabel beiseitegeschoben. Sie wird auch heute im politischen Disput wieim Disput um die Gestaltung des Rechts meist als störend empfunden. Aber ohne Wahrheit lebt der Mensch an sich selbst vorbei, überlässt er das Feld letztlich den Stärkeren. „Erlösung“ im vollen Sinn kann nur darin bestehen, dass die Wahrheit erkennbar wird. Und sie wird erkennbar, wenn Gott erkennbar wird. Er wird erkennbar in Jesus Christus. In ihm ist Gott in die Welt hereingetreten und hat damit den Maßstab der Wahrheit inmitten der Geschichte aufgerichtet. Die Wahrheit ist äußerlich in der Welt ohnmächtig, wie Christus nach den Maßstäben der Welt ohnmächtig ist: Er hat keine Legionen. Er wird gekreuzigt. Aber gerade so, in seiner Ohnmacht, hat er Macht, und nur so wird Wahrheit immer neu zur Macht.
Im Gespräch zwischen Jesus und Pilatus geht es um das Königtum Jesu und so um das Königtum, das „Reich“ Gottes. Gerade im Gespräch Jesu mit Pilatus wird sichtbar, dass es keinen Bruch zwischen der galiläischen Verkündigung Jesu – Reich Gottes – und seinen Jerusalemer Predigten gibt. Das Zentrum der Botschaft ist bis ans Kreuz hin – bis zur Kreuzesinschrift – das Reich Gottes, das neue Königtum, für das Jesus steht. Dessen Zentrum aber ist die Wahrheit. Das von Jesus in Gleichnissen und zuletzt ganz offen vor dem weltlichen Richter verkündigte Königtum ist eben das Königtum der Wahrheit. Um das Aufrichten dieses Königtums als die wahre Befreiung des Menschen geht es.
Zugleich wird sichtbar, dass zwischen der vorösterlichen Zentrierung auf das Reich Gottes und der nachösterlichen Zentrierung auf den Glauben an Jesus Christus als Sohn Gottes kein Widerspruch besteht. In Christus ist Gott – die Wahrheit – in die Welt hereingetreten.Christologie ist konkret gewordene Verkündigung von Gottes Reich.
Für Pilatus ist nach dem Verhör klar, was er auch vorher im Prinzip schon gewusst hatte. Dieser Jesus ist kein politischer Aufrührer, seine Botschaft und sein Auftreten sind keine Gefahr für die römische Herrschaft. Ob er gegen die Tora verstoßen hat, geht ihn, den Römer, nichts an.
Es scheint aber, dass Pilatus auch eine gewisse abergläubische Scheu gegenüber dieser merkwürdigen Gestalt empfand. Gewiss, Pilatus war Skeptiker. Aber als antiker Mensch rechnete er doch damit, dass Götter oder jedenfalls gottähnliche Wesen in Menschengestalt auftreten konnten. Johannes sagt, dass „die Juden“ Jesus beschuldigten, sich zum Sohn Gottes zu machen. Er fährt fort: „Als Pilatus das hörte, fürchtete er sich noch mehr“ (19,8).
Ich denke, mit dieser Furcht muss man bei Pilatus rechnen: Vielleicht war wirklich etwas Göttliches in diesem Menschen? Vielleicht vergriff er sich gegen göttliche Macht, wenn er ihn verurteilte? Vielleicht musste er mit dem Zorn dieser Mächte rechnen? Ich denke, seine Haltung in diesem Prozess erklärt sich nicht nur aus einem gewissen Willen zur Rechtlichkeit heraus, sondern gerade auch von diesen Vorstellungen her.
Die Ankläger bemerken dies ganz offensichtlich und stellen nun eine Furcht gegen eine andere. Gegen die abergläubische Furcht vor einer möglichen göttlichen Gegenwart setzen sie die ganz praktische Furcht, der Gunst des Kaisers verlustig zu gehen, die Stellung zu verlieren und so ins Bodenlose zu stürzen. Die Aussage „Wenn du diesen freigibst, bist du kein Freund des Kaisers“ (Joh 19,12)ist eine Drohung. Am Ende ist die Angst um die Karriere stärker als die Furcht vor den göttlichen Mächten.
Aber
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