Jesus von Nazareth - Band II
durchschritten hat und der für ihr Entstehen konstitutiv war. Zunächst war Jesu Ende am Kreuz einfach ein irrationales Faktum gewesen, das seine ganze Verkündigung und seine ganze Gestalt in Frage stellte. Die Geschichte von den Emmaus-Jüngern (Lk 24,13 – 35) beschreibt das gemeinsame Unterwegssein, das Miteinander-Sprechen und Miteinander-Suchen als Vorgang, in dem sich die Dunkelheit der Seele durch das Mitgehen Jesu langsam lichtet (v. 15). Es wird sichtbar, dass Mose und die Propheten, dass „die gesamte Schrift“ von den Ereignissen dieser Passion gesprochen hatten (v. 26f): Das „Absurde“erweist sich nun in seiner tiefen Bedeutung. In dem scheinbar sinnlosen Geschehen hat sich in Wahrheit der wirkliche Sinn der menschlichen Wanderschaft eröffnet, hat der Sinn über die Macht der Zerstörung und des Bösen gesiegt.
Was hier in einem großen Gespräch Jesu mit zwei Jüngern zusammengefasst ist, war in der werdenden Kirche ein Prozess des Suchens und Reifens. Im Licht der Auferstehung, im Licht der neu geschenkten Weggemeinschaft mit dem Herrn musste man das Alte Testament neu zu lesen lernen: „Mit einem Ende des Messias am Kreuz hatte ja niemand gerechnet. Oder hatte man die entsprechenden Andeutungen in der Heiligen Schrift bisher nur übersehen?“ (Reiser,
Bibelkritik
, S. 332). Nicht die Schriftworte haben die Erzählung von Fakten hervorgerufen, sondern die zunächst unverständlichen Fakten haben zu einem neuen Verstehen der Schrift geführt.
Der so gefundene Einklang von Faktum und Wort bestimmt nicht nur die Struktur der Passionsberichte (und der Evangelien überhaupt), sondern ist konstitutiv für den christlichen Glauben. Ohne ihn ist das Werden der Kirche nicht zu verstehen, deren Botschaft eben durch dieses Ineinander von Sinn und Geschichte ihre Glaubwürdigkeit und ihre historische Relevanz empfing und weiter empfängt: Wo dieser Zusammenhang aufgelöst wird, wird die Grundstruktur des christlichen Glaubens selbst aufgelöst.
In die Leidensgeschichte ist eine Vielzahl von Anspielungen auf alttestamentliche Texte eingewoben. Zwei davon sind von grundlegender Bedeutung, weil sie sozusagen den ganzen Bogen des Passionsgeschehens umspannenund theologisch durchlichten: Psalm 22 und Jes 53. Werfen wir daher im Voraus einen kurzen Blick auf diese beiden Texte, die für die Einheit von Schriftwort (Altes Testament) und Christus-Geschehen (Neues Testament) grundlegend sind.
Psalm 22 ist der große Notschrei des leidenden Israel zum scheinbar schweigenden Gott. Das Wort „schreien“, das dann auch in der Kreuzesgeschichte Jesu, besonders bei Markus, von zentraler Bedeutung ist, charakterisiert sozusagen die Tonart dieses Psalms. „Du bist fern meinem Schreien“, heißt es gleich zu Beginn. In den Versen 3 und 6 ist noch einmal von diesem Rufen die Rede. Die ganze Not des Leidenden vor dem scheinbar abwesenden Gott wird da hörbar. Hier reicht einfaches Rufen oder Bitten nicht mehr aus. In der äußersten Not wird das Gebet notwendigerweise zum Schrei.
Die Verse 7 – 9 sprechen von dem Spott, der den Beter umgibt. Dieser Spott wird zu einer Herausforderung Gottes und so erst recht zu einer Verhöhnung des Leidenden: „Der Herr reiße ihn heraus, wenn er an ihm Gefallen hat“: Das hilflose Leiden wird zum Beweis dafür herangezogen, dass Gott kein Gefallen an dem Gequälten habe. Vers 19 spricht vom Verlosen der Gewänder, wie es unter dem Kreuz tatsächlich stattgefunden hat.
Dann aber wandelt sich der Notschrei in ein Bekenntnis des Vertrauens, ja, in drei Verszeilen wird eine große Erhörung antizipiert und gefeiert. Zunächst: „Deine Treue preise ich in großer Gemeinde; ich erfülle meine Gelübde vor denen, die Gott fürchten“ (v. 26). Die werdende Kirche weiß sich als die große Gemeinde, in der die Erhörung des Schreienden, seine Rettung – die Auferstehung – gefeiert wird! Dem folgen zwei weitere überraschende Elemente.Das Heil betrifft nicht nur den Beter, sondern wird zur „Sättigung der Armen“ (v. 27). Mehr noch: „Alle Enden der Erde … werden umkehren zum Herrn: Vor ihm werfen sich alle Stämme der Völker nieder“ (v. 28).
Wie hätte die werdende Kirche aus diesen Versen nicht zum einen die „Sättigung der Armen“ in dem geheimnisvollen neuen Mahl heraushören sollen, das ihnen der Herr in der Eucharistie geschenkt hatte? Wie hätte sie darin zum anderen nicht das unerwartete Ereignis sehen dürfen, dass die Völker der
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