Jesus von Nazareth - Band II
verbunden wird: Macht – Vollmacht
(exousía)
. Herrschaft verlangt Macht, definiert sie geradezu. Jesus dagegen definiert als Wesen seines Königtums das Zeugnis für die Wahrheit. Ist Wahrheit eine politische Kategorie? Oder hat das „Reich“ Jesu mit Politik nichts zu tun? Welcher Ordnung gehört es dann an? Wenn Jesus sein Konzept von Königtum und Reich auf Wahrheit als fundamentalerKategorie gründet, fragt der Pragmatiker Pilatus durchaus verständlicherweise: „Was ist Wahrheit?“ (18,38).
Es ist die Frage, die auch die moderne Staatslehre stellt: Kann Politik Wahrheit als Kategorie für ihre Struktur annehmen? Oder muss sie Wahrheit als das Unzugängliche der Subjektivität überlassen und stattdessen sehen, wie sie mit den verfügbaren Instrumenten der Ordnung von Macht zu Rande kommt, um Frieden und Gerechtigkeit zu stiften? Macht sie sich nicht, auf Wahrheit setzend, angesichts der Unmöglichkeit eines Einverständnisses über die Wahrheit zum Werkzeug bestimmter Traditionen, die in Wirklichkeit doch nur Formen des Machterhalts darstellen?
Aber andererseits – was geschieht, wenn Wahrheit nicht zählt? Welche Gerechtigkeit ist dann möglich? Muss es nicht gemeinsame Maßstäbe geben, die wirklich Gerechtigkeit für alle verbürgen – Maßstäbe, die der Willkür der wechselnden Meinungen und der Machtkonzentrationen entzogen sind? Ist es nicht wahr, dass die großen Diktaturen von der Macht der ideologischen Lüge gelebt haben und dass nur die Wahrheit befreien konnte?
Was ist Wahrheit? Die skeptisch hingeworfene Frage des Pragmatikers ist eine sehr ernste Frage, in der es in der Tat um das Geschick der Menschheit geht. Was also ist Wahrheit? Können wir sie erkennen? Kann sie als Maßstab in unser Denken und Wollen hereintreten, sowohl im Einzelnen wie im Leben der Gemeinschaft?
Die klassische Wahrheitsdefinition der scholastischen Philosophie bezeichnet Wahrheit als „adaequatio intellectus et rei – Entsprechung zwischen Verstehen und Wirklichkeit“ (Thomas von Aquin,
S. theol.
I q. 21 a. 2 c). Wenn derVerstand eines Menschen eine Sache so widerspiegelt, wie sie in sich selber ist, dann hat der Mensch Wahrheit gefunden. Aber nur einen kleinen Ausschnitt aus dem, was wirklich ist – nicht die Wahrheit in ihrer Größe und als Ganze.
Schon näher kommen wir an die Intention Jesu mit einem anderen Wort des heiligen Thomas heran: „Die Wahrheit ist im Intellekt Gottes im eigentlichen Sinn und zuerst (primo et proprie); im menschlichen Intellekt aber ist sie eigentlich und abgeleitet (proprie quidem sed secundario)“ (
De verit.
q. 1 a. 4 c). Und so ergibt sich schließlich die lapidare Formel: Gott ist „ipsa summa et prima veritas – die höchste und erste Wahrheit selbst“ (
S. theol.
I q. 16 a. 5 c).
Mit dieser Formel sind wir in der Nähe dessen, was Jesus sagen will, wenn er von der Wahrheit spricht, für die zu zeugen er in die Welt gekommen ist. In der Welt sind Wahrheit und Irrtum, Wahrheit und Lüge immer wieder fast untrennbar vermischt.
Die
Wahrheit in ihrer ganzen Größe und Reinheit erscheint nicht. Die Welt ist „wahr“, insoweit sie Gott, den schöpferischen Sinn, die ewige Vernunft, spiegelt, aus der sie gekommen ist. Und sie wird umso wahrer, je mehr sie sich Gott annähert. Der Mensch wird wahr, wird er selbst, wenn er gottgemäß wird. Dann kommt er zu seinem eigentlichen Wesen. Gott ist die Sein und Sinn gebende Wirklichkeit.
„Für die Wahrheit Zeugnis geben“ heißt, Gott und seinen Willen den Interessen der Welt und ihren Mächten gegenüber zur Geltung zu bringen. Gott ist der Maßstab des Seins. In diesem Sinn ist die Wahrheit der wirkliche „König“, der allen Dingen ihr Licht und ihre Größe gibt. Wir können auch sagen: Zeugnis für die Wahrheit gebenbedeutet, von Gott, der schöpferischen Vernunft, her die Schöpfung lesbar und ihre Wahrheit so zugänglich zu machen, dass sie Maßstab und wegweisendes Kriterium in der Welt des Menschen sein kann – dass den Großen und Mächtigen die Macht der Wahrheit, das gemeinsame Recht, das Recht der Wahrheit entgegentritt.
Sagen wir es ruhig: Die Unerlöstheit der Welt besteht eben in der Unlesbarkeit der Schöpfung, in der Unerkennbarkeit der Wahrheit, die dann zur Herrschaft des Pragmatischen zwingt und so die Macht der Starken zum Gott dieser Welt werden lässt.
An dieser Stelle ist man als moderner Mensch versucht zu sagen: Uns ist dank der Wissenschaft die Schöpfung lesbar geworden. In
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