Jesus von Nazareth - Band II
Parallelismus, der einen Akt zweifach ausdrückt, unterscheidet Johannes zwei Handlungen: Die Soldaten machten zunächst vier Teile aus den Kleidern Jesu und verteilten sie unter sich. „Sie nahmen auch sein Untergewand, das von oben her ganz durchgewebt und ohne Naht war. Sie sagten zueinander: Wir wollen es nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll“ (19,23f).
Diese Notiz über den nahtlosen Leibrock
(chitōn)
ist so bedachtsam formuliert, weil Johannes darin offensichtlich mehr als ein zufälliges Detail festhalten wollte. Einige Ausleger verweisen in diesem Zusammenhang auf eine Auskunft des Flavius Josephus, derzufolge das Gewand
(chitōn)
des Hohepriesters aus einem einzigen Faden gewebt wurde (
Ant. Iud.
III 7,4). So darf man wohl in diesem leisen Hinweis des Evangelisten eine Anspielung auf die hohepriesterliche Würde Jesu finden, die er theologisch in Jesu Hohepriesterlichem Gebet eingehend dargestellt hatte: Der, der da stirbt, ist nicht nur der wahre König Israels. Er ist auch der Hohepriester, der gerade in dieser Stunde seiner äußersten Entehrung seinen hohepriesterlichen Dienst vollzieht.
Die Kirchenväter haben beim Bedenken dieses Textes einen anderen Akzent gesetzt: Sie sehen in dem nahtlosen Gewand, das auch die Soldaten nicht zerstückeln wollen, ein Bild für die unzerstörbare Einheit der Kirche. Das nahtlose Gewand ist Ausdruck der Einheit, um die der Hohepriester Jesus am Abend vor dem Leiden für die Seinigen gebetet hatte. In der Tat gehören im Hohepriesterlichen Gebet das Priestertum Jesu und die Einheit der Seinigen untrennbar zueinander. Zu Füßen des Kreuzes vernehmen wir noch einmal eindringlich die Botschaft, die Jesus in seinem Beten vor dem Hinausgehen in den Tod vor uns aufgerichtet und uns in die Seele geschrieben hat.
„Mich dürstet“
Z u Beginn der Kreuzigung war Jesus wie üblich ein Betäubungstrank angeboten worden, um die unerträglichen Schmerzen abzudämpfen. Jesus hat dieses Getränk abgelehnt – er wollte sein Leiden bewusst durchstehen (Mk 15,23). Auf dem Höhepunkt der Passion, in der brennenden Mittagssonne, am Kreuz ausgespannt, rief Jesus: „Mich dürstet“ (Joh 19,28). Der Gewohnheit gemäß reichte man Jesus von dem sauren Wein, der unter den Armen verbreitet war und den man auch als Essig bezeichnen konnte; er galt als durststillend.
Hier finden wir wiederum die Durchdringung von biblischem Wort und Ereignis vor, über die wir am Beginn dieses Kapitels nachgedacht haben. Einerseits ist die Szene ganz realistisch – da sind der Durst des Gekreuzigten und das saure Getränk, das die Soldaten in diesen Fällen zu verabreichen pflegen. Andererseits hören wir unmittelbarden Passions-Psalm 69 durch, in dem der Leidende klagt: „Für den Durst reichten sie mir Essig“ (v. 22). Jesus ist der leidende Gerechte. Die von der Schrift in den großen Erfahrungen der leidenden Beter dargestellte Passion des Gerechten erfüllt sich in ihm.
Aber wie sollte man bei dieser Szene nicht auch an das Weinbergslied im 5. Kapitel des Propheten Jesaja denken, das wir im Zusammenhang der Weinstock-Rede bedacht hatten (vgl. Teil I, S. 298 – 301)? Darin hatte Gott seine Klage vor Israel gebracht. Er hatte einen Weinberg auf fruchtbarer Höhe gepflanzt und alle Sorgfalt auf ihn verwendet. „Dann hoffte er, dass der Weinberg süße Trauben brächte, doch er brachte nur saure Beeren“ (Jes 5,2). Der Weinberg Israel trägt Gott nicht die edle Frucht der Gerechtigkeit, die in der Liebe gründet. Er trägt die sauren Beeren des Menschen, der nur um sich selbst besorgt ist. Er trägt Essig statt Wein. Die Klage Gottes, die wir im prophetischen Lied vernehmen, konkretisiert sich in dieser Stunde, in der dem dürstenden Erlöser Essig gereicht wird.
So wie das Lied des Jesaja über seine historische Stunde hinaus das Leiden Gottes an seinem Volk schildert, so greift auch die Szene am Kreuz über die Stunde des Todes Jesu hinaus. Nicht nur Israel, auch die Kirche, auch wir antworten auf Gottes fürsorgende Liebe immer wieder mit Essig – mit einem sauren Herzen, das die Liebe Gottes nicht wahrnehmen mag. „Mich dürstet“: Dieser Ruf Jesu richtet sich an jeden Einzelnen von uns.
Die Frauen unter dem Kreuz – die Mutter Jesu
A lle vier Evangelisten erzählen uns je auf ihre Weise von Frauen unter dem Kreuz. Markus berichtet so: „Auch einige Frauen sahen von Weitem zu, darunter Maria aus Magdala, Maria, die Mutter von Jakobus
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