Jesus von Nazareth - Band II
Jesus zusammen gekreuzigt, weil sie des gleichen Verbrechens schuldig befunden worden sind: Widerstand gegen die römische Macht.
Bei Jesus freilich ist die Art des Vergehens anders als bei den beiden, die vielleicht mit Barabbas an dessen Aufstand teilgenommen hatten. Pilatus weiß genau, dass Jesus derlei nicht im Sinn hatte, und so hat er denn auch in der Kreuzesaufschrift das „Verbrechen“ Jesu auf besondere Weise formuliert: „Jesus von Nazareth, König der Juden“ (Joh 19,19). Bisher hatte Jesus den Titel „Messias“ oder „König“ vermieden beziehungsweise sofort in Zusammenhang mit seinem Leiden gebracht (vgl. Mk 8,27 – 31), um falsche Interpretationen zu verhindern. Nun kann der Titel „König“ in aller Öffentlichkeit erscheinen. In den drei großen Sprachen von damals wird Jesus öffentlich als König proklamiert.
Es ist begreiflich, dass die Mitglieder des Synedriums sich stoßen an diesem Titel, in dem Pilatus sicher auch seinen Zynismus gegen die jüdischen Autoritäten ausdrücken und sich nachträglich an ihnen rächen will. Aber vor der Weltgeschichte steht nun diese Aufschrift da, die einer Königsproklamation gleichkommt. Jesus ist „erhöht“. Das Kreuz ist sein Thron, von dem aus er die Welt an sich zieht. Von diesem Ort der äußersten Hingabe seiner selbst, von diesem Ort einer wahrhaft göttlichen Liebe aus herrscht er als der wahre König auf seine Weise – auf die Weise, die weder Pilatus noch die Mitglieder des Hohen Rates hatten begreifen können.
Nicht beide Mitgekreuzigte Jesu stimmen in den Spott ein. Der eine von ihnen begreift das Geheimnis Jesu. Er weiß und sieht, dass Jesu Art von „Vergehen“ ganz anderswar. Dass Jesus gewaltlos war. Und er sieht nun, dass dieser Mitgekreuzigte wirklich das Antlitz Gottes sichtbar macht, Gottes Sohn ist. So bittet er ihn: „Jesus, wenn du in dein Reich kommst, gedenke meiner“ (Lk 23,42). Wie der rechte Räuber sich das Kommen Jesu in sein Reich genau vorgestellt und wie er sich daher das Gedenken Jesu erbeten hat, wissen wir nicht. Aber offensichtlich hat er gerade am Kreuz begriffen, dass dieser Ohnmächtige der wahre König ist – der, auf den Israel wartet und an dessen Seite er nun nicht nur am Kreuz, sondern auch in der Herrlichkeit stehen will.
Die Antwort Jesu geht über die Bitte hinaus. An die Stelle einer unbestimmten Zukunft tritt sein Heute: „Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“ (23,43). Auch dieses Wort ist geheimnisvoll, aber es zeigt uns eines mit Sicherheit: Jesus wusste, dass er direkt in die Gemeinschaft mit dem Vater eingehen werde – dass er das „Paradies“ noch für „heute“ verheißen konnte. Er wusste, dass er den Menschen wieder ins Paradies hineinführte, aus dem er herausgefallen war: in das Mitsein mit Gott als das wahre Heil des Menschen.
So ist in der Geschichte der christlichen Frömmigkeit der rechte Räuber zum Bild der Hoffnung geworden – zur tröstenden Gewissheit, dass Gottes Erbarmen uns auch im letzten Augenblick erreichen kann; ja, dass nach einem verfehlten Leben die Bitte um seine Güte nicht umsonst getan wird. So betet zum Beispiel auch das
Dies irae:
„Hast dem Schächer du verziehen, hast auch Hoffnung mir verliehen.“
Der Verlassenheitsruf Jesu
M atthäus und Markus erzählen uns übereinstimmend, dass Jesus um die neunte Stunde mit lauter Stimme rief: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mt 27,46; Mk 15,34). Sie überliefern den Schrei Jesu in einer Mischung aus Hebräisch und Aramäisch und übersetzen ihn dann ins Griechische. Dieses Gebet Jesu hat immer wieder das Fragen und Nachdenken der Christen wachgerufen: Wie konnte der Sohn Gottes von Gott verlassen sein? Was bedeutet dieser Ruf? Rudolf Bultmann zum Beispiel bemerkt dazu: Jesu Hinrichtung geschah „aufgrund eines Missverständnisses seines Wirkens als eines politischen. Sie wäre dann – historisch gesprochen – ein sinnloses Schicksal. Ob oder wie Jesus in ihm einen Sinn gefunden hat, können wir nicht wissen. Die Möglichkeit, dass er zusammengebrochen ist, darf man sich nicht verschleiern“ (
Das Verhältnis
, S. 12). Was sollen wir zu alledem sagen?
Zunächst ist zu bedenken, dass nach dem Bericht beider Evangelisten die Umstehenden den Ruf Jesu nicht verstanden, sondern als Schrei nach Elija gedeutet haben. In gelehrten Arbeiten hat man versucht, das Wort Jesu genau so zu rekonstruieren, dass es einerseits als Ruf an Elija missverstanden
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