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Jesus von Nazareth - Band II

Jesus von Nazareth - Band II

Titel: Jesus von Nazareth - Band II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benedikt XVI
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werden konnte, andererseits den Verlassenheitsruf des Psalms 22 darstellte (vgl. Pesch,
Markusevangelium
II, S.   495). Wie dem auch sei: Erst die glaubende Gemeinde hat den von den Umstehenden nicht verstandenen und missdeuteten Schrei Jesu als das Anfangswort des Psalms 22 begriffen und ihn von daher als wahrhaft messianischen Ruf verstehen können.
    Es ist nicht irgendein Verlassenheitsschrei. Jesus betetden großen Psalm des leidenden Israel und nimmt so die ganze Drangsal nicht nur Israels, sondern aller an der Verborgenheit Gottes leidenden Menschen dieser Welt in sich hinein. Er trägt den Notschrei der Welt, die von der Abwesenheit Gottes gepeinigt ist, vor das Herz Gottes selber hin. Er identifiziert sich mit dem leidenden Israel, mit der unter dem Gottesdunkel leidenden Menschheit, nimmt ihr Schreien, ihre Not, ihre ganze Hilflosigkeit in sich hinein und verwandelt sie damit zugleich.
    Psalm 22 durchzieht – wie wir gesehen haben – die Passionsgeschichte und reicht über sie hinaus. Die öffentliche Demütigung, der Hohn und das Kopfschütteln der Spötter, die Schmerzen, der entsetzliche Durst, das Durchbohren der Hände und Füße, das Verlosen der Kleider – die ganze Passion ist in dem Psalm gleichsam vorab geschildert. Indem Jesus die Anfangsworte des Psalms spricht, ist letztlich jedoch schon das Ganze dieses großen Gebets gegenwärtig – auch die Gewissheit der Erhörung, die sich zeigen wird in der Auferstehung, im Werden der „großen Gemeinde“ und in der Sättigung der Armen (vgl. v. 25ff). Der Ruf in der äußersten Not ist zugleich Gewissheit der göttlichen Antwort, Gewissheit des Heils – nicht nur für Jesus selbst, sondern für „viele“.
     
    In der neueren Theologie sind viele tiefgründige Versuche angestellt worden, von diesem Notschrei Jesu her in die Abgründe seiner Seele hineinzuschauen und das Geheimnis seiner Person in der letzten Drangsal zu verstehen. All diese Bemühungen sind letztlich von einem zu engen individualistischen Ansatz geprägt.
    Ich denke, dass die Kirchenväter mit ihrer Weise des Verstehens von Jesu Beten viel näher an der Wirklichkeitwaren. Schon bei den Betern des Alten Bundes gehören die Psalmworte nicht einem einzelnen, in sich geschlossenen Subjekt zu. Gewiss, es sind ganz persönliche, im Ringen mit Gott gewachsene Worte, in denen aber doch zugleich alle leidenden Gerechten, ganz Israel, ja, die ringende Menschheit mitbeten, und immer umspannen daher diese Psalmen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie stehen im Präsens des Leidens und tragen doch in sich schon das Geschenk der Erhörung, der Verwandlung.
    Die Väter haben diese Grundfigur, die in der neueren Forschung als „Korporativpersönlichkeit“ charakterisiert wird, von ihrem Christusglauben her aufgenommen und vertieft: In den Psalmen betet – so sagt uns Augustinus   – Christus als Haupt und Leib zugleich (vgl. z.   B.
En. in Ps.
60,1f; 61,4; 85,1.5). Er betet als „Haupt“ – als der, der uns alle zu einem gemeinsamen Subjekt vereint und uns alle in sich aufnimmt. Und er betet als „Leib“, das heißt: Unser aller Ringen, unsere eigenen Stimmen, unsere Not und unsere Hoffnung sind gegenwärtig. Wir selbst sind Beter dieses Psalms, aber nun auf neue Weise in der Gemeinschaft mit Christus. Und von ihm her sind immer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geeint.
    Immer wieder stehen wir im abgründigen Heute des Leidens. Immer aber ist auch die Auferstehung und die Sättigung der Armen schon „heute“. Durch eine solche Sicht wird nichts von der Schrecklichkeit der Passion Jesu weggenommen. Im Gegenteil: Sie wird größer, weil sie nicht nur individuell ist, sondern wirklich unser aller Not in sich trägt. Aber zugleich ist sein Leiden messianische Passion – ein Leiden in der Gemeinschaft mit uns, für uns; ein Mitsein, das aus der Liebe kommt und so schon die Erlösung, den Sieg der Liebe in sich trägt.

Die Verlosung der Gewänder Jesu
     
    D ie Evangelisten berichten uns davon, dass das Hinrichtungskommando – bestehend aus vier Soldaten – die Kleider Jesu durch Verlosung unter sich verteilte. So entsprach es römischem Brauch, nach dem die Gewänder des Hingerichteten dem Exekutionstrupp zufielen. Johannes zitiert dazu ausdrücklich Ps 22,19, indem er sagt: „So sollte sich das Schriftwort erfüllen: Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand“ (v. 19,24).
    In Anpassung an den für die hebräische Poesie typischen

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