Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
bewahrt es in ihrem Herzen und lässt es darin allmählich zur Reife kommen.
Die Worte Jesu sind immer wieder größer als unser Verstand. Immer wieder übersteigen sie unsere Einsicht. Die Versuchung, sie zu verkleinern, sie auf unsere Maße zurechtzubiegen, ist begreiflich. Zur rechten Auslegung gehört gerade die Demut, diese uns oft überfordernde Größe stehen zu lassen, nicht Jesu Worte zu verkleinern mit der Frage, was wir ihm „zutrauen“ dürfen. Er traut uns Großes zu. Glauben heißt, sich dieser Größe zu unterwerfen und langsam in sie hineinzuwachsen.
Maria wird dabei von Lukas ganz bewusst als die vorbildlich Glaubende dargestellt: „Selig bist du, die du geglaubt hast“, hatte Elisabeth zu ihr gesagt (Lk 1,45). Mit der in der Kindheitsgeschichte zweimal vorgebrachten Bemerkung, dass Maria die Worte in ihrem Herzen bewahrte (Lk 2,19.51), verweist Lukas, wie gesagt, auf die Quelle, aus der er bei seiner Erzählung schöpft. Zugleich erscheint Maria nicht nur als die große Glaubende, sondern als das Bild der Kirche, die das Wort Gottes in ihrem Herzen bewahrt und weiterträgt.
„Dann kehrte er mit ihnen nach Nazareth zurück und war ihnen untertan … Jesus aber wuchs heran und nahm zu an Weisheit und Alter und Wohlgefallen bei Gott und den Menschen“ (Lk 2,51 f). Nach dem Augenblick, in dem der größere Gehorsam aufleuchtete, in dem Jesus stand, kehrt er in die normale Situation seiner Familie zurück – in die Demut des einfachen Lebens und in den Gehorsam gegen seine irdischen Eltern.
Der Aussage von Jesu Wachsen an Weisheit und Alter fügt Lukas aus dem 1. Samuel-Buch die Formel hinzu, die sich dort auf den jungen Samuel bezieht (vgl. 2,26): Er wuchs an Gunst (Gnade, Wohlgefallen) bei Gott und bei den Menschen. Der Evangelist greift damit noch einmal den Zusammenhang zwischen der Geschichte von Samuel und der Kindheitsgeschichte Jesu auf, der zuerst im Magnificat, dem Lobgesang Marias bei der Begegnung mit Elisabeth, erschienen war. Dieser Hymnus der Freude und der Lobpreisung des Gottes, der die Kleinen liebt, ist eine Neufassung des Dankgebets, mit dem Hanna, die Mutter Samuels, die kinderlos gewesen war, für das Geschenk des Knaben dankt, mit dem der Herr ihr Leid gewendet hatte. In der Jesusgeschichte, so sagt uns der Evangelist mit seiner Zitation, wiederholt sich die Geschichte von Samuel auf einer höheren Ebene, in endgültiger Weise.
Wichtig ist auch, was Lukas über Jesu Wachstum nicht nur an Alter, sondern auch an Weisheit sagt. Zum einen ist in der Antwort des Zwölfjährigen deutlich geworden, dass er den Vater – Gott – von innen her kennt. Er allein kennt Gott, nicht nur durch Menschen, die ihn bezeugen, sondern er erkennt ihn in sich selbst. Er steht mit dem Vater als Sohn auf du und du. Er lebt in seiner Anwesenheit. Er sieht ihn. Johannes sagt, dass er der Einzige ist, der am Herzen des Vaters ruht und daher von ihm Kunde geben kann (vgl. Joh 1,18). Genau dies wird in der Antwort des Zwölfjährigen deutlich: Er ist beim Vater, er sieht die Dinge und die Menschen in seinem Licht.
Und doch gilt zugleich, dass seine Weisheit wächst. Als Mensch lebt er nicht in einem abstrakten Allwissen, sondern ist er eingewurzelt in eine konkrete Geschichte, inOrt und Zeit, in die Phasen menschlichen Lebens, und empfängt die konkrete Gestalt seines Wissens daraus. So erscheint hier ganz deutlich, dass er auf menschliche Weise gedacht und gelernt hat.
Es wird wirklich sichtbar, dass er wahrer Mensch und wahrer Gott ist, wie es der Glaube der Kirche formuliert. Das Ineinander von beidem können wir letztlich nicht definieren. Es bleibt Geheimnis, und doch erscheint es ganz konkret in der kleinen Geschichte vom Zwölfjährigen, die damit zugleich die Tür auftut in das Ganze seiner Gestalt, das uns dann die Evangelien erzählen.
LITERATURHINWEISE
Allgemeine Literaturhinweise
– Klaus Berger, Kommentar zum Neuen Testament, Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2011.
– Jean Daniélou, Les Évangiles de l’Enfance, Éditions du Seuil, Paris 1967.
– André Feuillet, Le Sauveur messianique et sa Mère dans les récits de l’enfance de Saint Matthieu et de Saint Luc, Pontificia Accademia Teologica Romana, Collezione Teologica vol. 4, Libreria Editrice Vaticana 1990.
– Joachim Gnilka, Das Matthäusevangelium . Erster Teil, Herders theologischer Kommentar zum Neuen Testament Bd. I/1, Freiburg – Basel – Wien 1986.
– René Laurentin, Les Évangiles de l’Enfance
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