Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
ist und seine Identität und seine Einheit immer wieder von der Begegnung mit Gott in dem einen Tempel empfängt. Die heilige Familie reiht sich in diese große Weggemeinschaft zum Tempel und zu Gott hin ein.
Bei der Heimreise geschieht etwas Überraschendes. Jesus reist nicht mit, sondern bleibt in Jerusalem. Seine Eltern bemerken dies erst am Ende des ersten Pilgertages. Für sie war es offenbar ganz normal, anzunehmen, Jesus sei irgendwo in der Pilgergruppe. Lukas gebraucht dafür das Wort synodía – „Weggemeinschaft“ –, den Fachausdruck für die Reisekarawane. Von unserem vielleicht etwas zu engherzigen Bild der heiligen Familie her verwundert uns dies. Es zeigt uns aber sehr schön auf, dass in der heiligen Familie Freiheit und Gehorsam auf eine gute Weise ineinandergingen. Dem Zwölfjährigen war es freigestellt, sich mit Altersgenossen und Freunden zusammenzutun und bei der Wanderung in ihrer Gesellschaft zu bleiben. Freilich – am Abend erwarteten ihn seine Eltern.
Dass er dann nicht da war, hat nichts mehr mit der Freiheitder jungen Leute zu tun, sondern verweist auf eine andere Ebene, wie sich zeigen sollte: auf die besondere Sendung des Sohnes. Für die Eltern begannen damit Tage voller Angst und Sorge. Der Evangelist erzählt uns, dass sie Jesus erst nach drei Tagen im Tempel wiederfanden, wo er mitten unter den Lehrern saß, ihnen zuhörte und Fragen stellte (vgl. Lk 2,46).
Die drei Tage lassen sich ganz praktisch erklären: Einen Tag waren Maria und Josef nach Norden gewandert, einen weiteren Tag benötigten sie zur Rückkehr, und am dritten Tag haben sie Jesus schließlich gefunden. Obwohl die drei Tage also eine durchaus realistische Zeitangabe sind, muss man dennoch René Laurentin recht geben, der hier einen stillen Verweis auf die drei Tage zwischen Kreuz und Auferstehung heraushört. Es sind Tage der erlittenen Abwesenheit Jesu, Tage des Dunkels, dessen Schwere man in den Worten der Mutter empfindet: „Kind, wie konntest du uns das antun? Dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht“ (Lk 2,48). So geht hier vom ersten Pascha Jesu ein Bogen hin zu seinem letzten, dem Pascha des Kreuzes.
Die göttliche Sendung Jesu sprengt alle menschlichen Maße und wird für den Menschen immer wieder zum dunklen Geheimnis. Etwas von dem Schwert des Schmerzes, von dem Simeon gesprochen hatte (vgl. Lk 2,35), wird in dieser Stunde für Maria spürbar. Je näher ein Mensch zu Jesus kommt, desto mehr wird er in das Mysterium seiner Passion einbezogen.
Die Antwort Jesu auf die Frage der Mutter ist gewaltig: Wie? Ihr habt mich gesucht? Wusstet ihr denn nicht, wo ein Kind sein muss? Dass es im Haus des Vaters sein muss,„in dem, was des Vaters ist“ (Lk 2,49)? Jesus sagt den Eltern: Ich bin genau dort, wo ich hingehöre – beim Vater, in seinem Haus.
Vor allem zweierlei ist wichtig an dieser Antwort. Maria hatte gesagt: „Dein Vater und ich haben dich mit Schmerzen gesucht.“ Jesus korrigiert sie: Ich bin beim Vater. Nicht Josef ist mein Vater, sondern ein anderer – Gott selbst. Zu ihm gehöre ich, bei ihm bin ich. – Kann die Gottessohnschaft Jesu noch deutlicher dargestellt werden?
Damit hängt unmittelbar das Zweite zusammen. Jesus spricht von einem „Muss“, dem er folgt. Der Sohn, das Kind muss beim Vater sein. Das griechische Wort deĩ, das Lukas hier gebraucht, kehrt in den Evangelien immer dort wieder, wo Gottes Willensverfügung dargestellt wird, der Jesus untersteht. Er „muss“ viel leiden, verworfen werden, getötet werden und auferstehen, sagt er nach dem Petrusbekenntnis zu seinen Jüngern (vgl. Mk 8,31). Dieses „Muss“ gilt auch schon in dieser frühen Stunde: Er muss beim Vater sein, und so wird sichtbar, dass das, was als Ungehorsam oder als ungehörige Freiheit den Eltern gegenüber erscheint, in Wirklichkeit gerade Ausdruck für seinen Sohnesgehorsam ist. Er ist im Tempel nicht als Rebell gegen die Eltern, sondern gerade als Gehorchender, mit dem gleichen Gehorsam, der zum Kreuz und zur Auferstehung führt.
Der heilige Lukas beschreibt die Reaktion von Maria und Josef auf Jesu Wort mit zwei Aussagen: „Sie verstanden das Wort nicht, das er ihnen sagte“, und „Maria bewahrte all diese Worte in ihrem Herzen“ (Lk 2,50.51). Das Wort Jesu ist zu groß für den Augenblick. Auch der Glaube Marias ist ein Glaube „unterwegs“, ein Glaube, der immerwieder im Dunkel steht und im Durchschreiten des Dunkels reifen muss. Maria versteht das Wort Jesu nicht, aber sie
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