Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
im Gegensatz zu den vorangehenden Erfüllungszitaten nicht auf ein bestimmtes Schriftwort, sondern auf die Propheten insgesamt. Ihre Hoffnung ist in dieser Benennung Jesu zusammengefasst.
Matthäus hat damit den Auslegern aller Zeiten ein schwieriges Problem hinterlassen: Wo ist dieses Hoffnungswort bei den Propheten grundgelegt?
Bevor wir dieser Frage nachgehen, sind vielleicht ein paar sprachliche Bemerkungen nützlich. Das Neue Testament kennt für Jesus die zwei Bezeichnungen Nazōraĩos und Nazarēnos . Nazōraĩos wird von Matthäus, von Johannes und von der Apostelgeschichte verwendet, Nazarēnos von Markus; Lukas gebraucht beide Formen. In der semitischen Sprachwelt heißen Jesu Anhänger Nazoräer, im griechisch-römischen Sprachraum werden sie Christen genannt (vgl. Apg 11,26). Aber nun müssen wir ganz konkret fragen: Gibt es eine Spur einer Verheißung im Alten Testament, die zum Wort „Nazoräer“ führt und auf Jesus bezogen werden kann?
Ansgar Wucherpfennig hat in seiner Monographie über den heiligen Josef die schwierige exegetische Diskussion sorgsam zusammengefasst. Ich will versuchen, nur das Wichtigste herauszugreifen. Es gibt zwei Hauptlinien einer Lösung.
Die erste verweist auf die Verheißung der Geburt des Richters Simson. Über ihn sagt der Engel, der seine Geburt ankündigt, er werde vom Mutterleib an ein gottgeweihter „Nasiräer“ sein, und zwar – wie seine Mutter berichtet – „bis zu seinem Tod“ (Ri 13,5–7). Gegen diese Herleitung der Bezeichnung Jesu als „Nazoräer“ spricht, dass Jesus die im Richter-Buch genannten Kriterien des Nasiräers, besonders das Alkoholverbot, nicht erfüllt hat. Er war kein Nasiräer im klassischen Sinn des Wortes. Dennoch galt von ihm in einer über solche Äußerlichkeiten weit hinausreichenden Weise, dass er ein ganz Gott Geweihter war, Gott ganz zugeeignet, vom Mutterschoß bis in denTod hinein. Wenn wir uns an das erinnern, was Lukas sagt über die Darbringung Jesu, „des Erstgeborenen“, an Gott im Tempel, oder wenn wir uns vor Augen halten, wie der Evangelist Johannes Jesus als denjenigen zeigt, der ganz vom Vater herkommt, von ihm und auf ihn hin lebt, wird in außerordentlicher Dichte sichtbar, wie Jesus wirklich ein Gottgeweihter war, vom Mutterschoß an bis in den Tod am Kreuz.
Die zweite Deutungslinie geht davon aus, dass man in dem Namen Nazoräer das Wort nezer mithören kann, das im Mittelpunkt von Jes 11,1 steht: „Aus dem Baumstumpf Isais wächst ein Spross (nezer) hervor.“ Dieses Prophetenwort ist im Zusammenhang der messianischen Trilogie Jes 7 („Die Jungfrau wird gebären“), Jes 9 (Licht im Dunkel, „ein Kind ist uns geboren“) und Jes 11 (der Spross aus dem Baumstumpf, über dem der Geist des Herrn steht) zu lesen. Da Matthäus auf Jes 7 und 9 ausdrücklich Bezug nimmt, ist es sinnvoll, bei ihm auch einen Hinweis auf Jes 11 zu vermuten. Das Besondere an dieser Verheißung ist es, dass sie über David hinweg auf den Stammvater Isai zurückgreift. Aus dem schon abgestorben scheinenden Baumstumpf lässt Gott ein neues Reis sprießen: Er setzt einen neuen Anfang, der doch in einer letzten Kontinuität mit der vorangegangenen Verheißungsgeschichte bleibt.
Wie sollte man dabei nicht an das Ende des matthäischen Stammbaums denken, der einerseits ganz von der Kontinuität des göttlichen Heilshandelns geprägt ist und doch am Schluss umbricht und von einem ganz neuen Anfang spricht, mit dem Gott selbst eingreift und eine Geburt schenkt, die nicht mehr aus menschlichem „Zeugen“ kommt? Ja, wir dürfen mit gutem Recht annehmen, dass Matthäus im Namen Nazareth das Prophetenwort vom„Spross“ (nezer) mitgehört hat und in der Bezeichnung Jesu als Nazoräer die Erfüllung der Verheißung angedeutet fand, dass Gott aus dem abgestorbenen Baumstumpf Isais einen neuen Trieb schenken werde, auf dem der Geist Gottes liegen solle.
Nehmen wir hinzu, dass auf der Kreuzesinschrift Jesus als Nazoräer (ho Nazōraĩos) bezeichnet wurde (vgl. Joh 19, 19), so erhält der Titel seinen vollen Klang: Was zunächst nur seine Herkunft benennen sollte, deutet doch zugleich sein Wesen an: Er ist der „Spross“; er ist der ganz Gott Geweihte, vom Mutterschoß bis in den Tod.
Am Ende dieses langen Kapitels stellt sich die Frage: Wie sollen wir dies alles auffassen? Handelt es sich um wirklich geschehene Geschichte, oder ist es nur eine theologische Meditation, in die Gestalt von Geschichten gekleidet? Jean Daniélou bemerkt
Weitere Kostenlose Bücher