Jesus von Nazareth: Prolog - Die Kindheitsgeschichten (German Edition)
dazu mit Recht: „Die Anbetung durch die Weisen berührt im Unterschied zum Bericht von der Verkündigung (an Maria) keinen für den Glauben wesentlichen Aspekt. Sie könnte eine Schöpfung des Matthäus sein, von einer theologischen Idee inspiriert; nichts würde dabei einstürzen“ (a. a. O., S. 105). Daniélou selbst kommt aber zu der Überzeugung, dass es sich um historische Geschehnisse handle, deren Bedeutung von der judenchristlichen Gemeinde und von Matthäus theologisch ausgelegt wurde.
Um es einfach zu sagen: Dies ist auch meine Überzeugung. Allerdings muss man feststellen, dass sich im Lauf der letzten 50 Jahre in der Beurteilung der Historizität ein Meinungsumschwung zugetragen hat, der nicht auf neuen historischen Erkenntnissen beruht, sondern auf einer veränderten Einstellung zur Heiligen Schrift und zur christlichenBotschaft insgesamt. Während Gerhard Delling im vierten Band des Theologischen Wörterbuchs zum Neuen Testament (1942) die Historizität der Erzählung von den Weisen noch für überzeugend durch die Geschichtsforschung gesichert ansah (vgl. S. 362, Anm. 11), stehen inzwischen auch durchaus kirchlich gesinnte Exegeten wie Ernst Nellessen oder Rudolf Pesch gegen die Historizität oder lassen sie zumindest offen.
Beachtenswert ist angesichts dieser Situation die sorgsam abwägende Stellungnahme von Klaus Berger in seinem 2011 erschienenen Kommentar zum ganzen Neuen Testament: „Auch bei nur einmaliger Bezeugung … ist bis zum Erweis des Gegenteils davon auszugehen, dass die Evangelisten ihre Leser nicht täuschen, sondern Historisches berichten wollen … Die Historizität dieses Berichts auf Verdacht hin zu bestreiten überfordert jede denkbare Kompetenz von Historikern“ (a. a. O., S. 20).
Dem kann ich nur zustimmen. Die beiden Kapitel der Kindheitsgeschichte des Matthäus sind nicht eine in Geschichten gekleidete Meditation, sondern umgekehrt: Matthäus erzählt uns wirkliche Geschichte, die theologisch bedacht und gedeutet ist, und hilft uns so, das Geheimnis Jesu tiefer zu verstehen.
EPILOG
DER ZWÖLFJÄHRIGE
JESUS IM TEMPEL
Ü ber die Geschichte von der Geburt Jesu hinaus hat uns der heilige Lukas noch ein kostbares kleines Überlieferungsstück aus der Kindheit aufbewahrt, in dem auf eigentümliche Weise das Geheimnis Jesu aufleuchtet. Es wird uns erzählt, dass Jesu Eltern jedes Jahr am Pascha-Fest nach Jerusalem pilgerten. Die Familie Jesu war fromm, sie beobachtete das Gesetz.
In den Darstellungen der Gestalt Jesu wird manchmal fast nur das Umstürzlerische, das Vorgehen Jesu gegen falsche Frömmigkeit aufgezeigt. Jesus erscheint so als Liberaler oder als Revolutionär. In der Tat hat Jesus in seiner Sendung als Sohn eine neue Phase des Gottesverhältnisses eingeleitet, in der er eine neue Dimension der menschlichen Beziehung zu Gott eröffnet hat. Aber dies ist nicht ein Angriff auf die Frömmigkeit Israels. Die Freiheit Jesu ist nicht die Freiheit des Liberalen. Es ist die Freiheit des Sohnes und so die Freiheit des wahrhaft Frommen. Als Sohn bringt Jesus eine neue Freiheit, aber es ist nicht die Freiheit des Bindungslosen, sondern die Freiheit dessen, der eins ist mit dem Willen des Vaters und der den Menschen zu der Freiheit des inneren Einsseins mit Gott verhilft.
Jesus ist nicht gekommen, um abzuschaffen, sondern um zu erfüllen (vgl. Mt 5,17). Diese aus dem Sohnsein kommende Verbindung von radikaler Neuheit und ebenso radikaler Treue erscheint gerade auch in der kleinen Geschichte vom Zwölfjährigen; ja, ich würde sagen, sie ist der eigentliche theologische Gehalt, auf den sie abzielt.
Kehren wir zurück zu den Eltern Jesu. Die Tora schrieb vor, dass jeder Israelit zu den drei großen Festen – Pascha, Wochenfest (Pfingsten) und Laubhüttenfest – im Tempelzu erscheinen habe (vgl. Ex 23,17; 34,23 f; Dt 16,16 f). Die Frage, ob auch die Frauen zu dieser Pilgerschaft verpflichtet waren, war zwischen den Schulen Schammai und Hillel umstritten. Für Knaben galt die Verpflichtung vom vollendeten 13. Lebensjahr an. Aber zugleich galt, dass sie sich allmählich an die Gebote zu gewöhnen hatten. Dem konnte die Wallfahrt mit bereits zwölf Jahren dienen. Dass Maria und Jesus mit bei der Wallfahrt gewesen sind, zeigt also noch einmal die Frömmigkeit der Familie Jesu an.
Beachten wir dabei auch den tieferen Sinn der Wallfahrt: Israel bleibt im dreimaligen Gehen zum Tempel gleichsam ein pilgerndes Gottesvolk, das immer auf dem Weg zu seinem Gott
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