Jesus Von Nazareth - Und Die Anfaenge Des Christentums - Ein SPIEGEL-Buch
die der Herr hinaufstieg, als er die Seligkeiten lehrte.«
Stufen sind jedenfalls heute noch zu sehen bei der kleinen Primatskapelle direkt am Seeufer. Sind es die Stufen? Pilger aus Sri Lanka begutachten sie gerade, auch einen großen Stein, an dem die Apostel-Fischer ihre Boote festgemacht haben sollen. In der Kirche steht wieder ein Felsen, »mensa christi«, Tisch des Herrn, heißt es auf einer Tafel. Hier soll der auferstandene Jesus mit seinen Jüngern noch einmal gefrühstückt haben. Pilger aus aller Welt sind hier, tauchen ihre Füße in den schimmernden See. Ein Schild am Weg warnt uns: »Holy Place – no shorts!« Auch wir haben längst Schuhe und Strümpfe ausgezogen, das kühle Wasser tut gut. »Gell, des is woas anders als dene Inder ihrn Ganges«, sagt eine resolute bayerische Mitpilgerin mit Blick auf die indische Gruppe, die fröhlich lachend am Ufer watet. Die herrlichste Aussicht auf den See hat man vom Berg jener Seligpreisungen, die es vermutlich so nie gab: »Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich«, wunderschöne Verheißungen sind es, die Jesus nach Matthäus da aussprach. Wir lesen sie noch einmal, aber den See sehen wir nicht, er ist dunstverhangen wie so oft.
»Liebster Jesu, wir sind hier«, singen wir unverdrossen, zur Messe im Freien hat Pfarrer Scherr eine weiße Albe angelegt, die an das Taufgewand erinnert, er trägt ein Holztablett mit den liturgischen Utensilien, die für durchreisende Pfarrer leihweise bereitgehalten werden: Altartuch, Altarkreuz, rote Kerze, Kelch fürs Abendmahl, ein Kännchen mit Wein, eines mit Wasser, eine Schale für die Hostie. »Lassen Sie die Seele baumeln, spüren Sie«, ermuntert Scherr seine kleine Pilgergemeinde, und doch kommt er wieder auf die Beweislage zu sprechen: Matthäus hat die Bergpredigt überliefert, bei Lukas gibt es den Berg gar nicht, er verlegt die Rede aufs Feld. »Welches nun stimmt, kann ich nicht sagen, ob es diese Anhöhe war oder eine andere oder ein Feldweg, wir wissen es nicht, für uns ist wichtig, dass es eine Lokalisierung gibt: dort, wo Jesus das Wort an die Menschen gerichtet hat.« Tatsächlich stört es die Pilger nicht: »An den Plätzen hab ich eh meine Zweifel, wichtig ist, dass die Botschaft stimmt«, sagt eine Mitpilgerin von der Donau, »die Worte bekommen für mich hier mehr Bedeutung.« Pfarrer Scherr braucht keine Beweise. Er ist ein eindrücklicher Redner, seine Predigten sind wohl gesetzt. Die bloße Vorstellung, Jesus sei hier oder in der Nähe gewandelt, reicht, um ihm die Folie auszulegen, auf der die Bibel lebendig werden kann.
Mit einem einfachen Holzschiff fahren wir hinaus auf den See, alle tun das hier. Es ist ja auch so schön in dieser Landschaft in ihrer Mischung aus Kargheit und blühendem Garten, viele werden hinterher sagen, am See Genezareth mit seiner Stille, seinen Farben, auch seiner Verlassenheit, konnten sie ihren Glauben und Jesus am besten spüren. Kaum sind wir draußen, kommt eine Windböe auf, das Boot schaukelt kräftig, einige schauen zum Kapitän, hat er die Sache im Griff? War es nicht auch in der Bibel so? Scherr zitiert aus dem Lukasevangelium: Da stieg Jesus mit seinen Jüngern in ein Boot, ein Sturm brach los, aber er schlief. Da weckten sie ihn und riefen: »Meister, Meister, wir kommen um!« Er aber stand auf, drohte Wind und Wellen, und sie legten sich. »Er aber sprach zu ihnen: Wo ist euer Glaube?« Hier, mitten auf dem See, ist das nun Scherrs Thema: »Das ist eine Anfrage auch an unseren Glauben.« So lassen sich theologische Fragen mit dem Leben verbinden: Wo ist mein Gottvertrauen in Zeiten von Angst, Panik, Sorge?
Das Christentum, so haben es die Theologen Christoph Markschies und Hubert Wolf einmal formuliert, ist »eine große Topografie von Erinnerungsorten«. Und kein Erinnerungsort ohne Kirche. Praktisch überall im Heiligen Land, wo der Heiland in der Bibel den Fuß niedersetzte, bauten Christen eine Kirche: an seiner Geburtsstätte in Bethlehem; in Nazareth, wo der Engel Maria verkündete, dass sie schwanger werden würde; wo er die 5000 speiste; wo er Wasser in Wein verwandelte bei der Hochzeit von Kana; wo Petrus ihn dreimal verleugnete, bevor noch der Hahn gekräht hatte; im Garten Gethsemane, wo er vor seinem nahen Ende verzweifelt betete; sogar beim Felsen, von dem er den Esel bestieg, als er in Jerusalem einzog.
Dutzende Kirchen säumen seinen mutmaßlichen Weg, allein fünf stehen auf dem Ölberg. Eine von ihnen wurde
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