JesusLuxus - Die Kunst wahrhaft verschwenderischen Lebens
total überfordert, gäbe es da nicht noch den anderen, den Geschichtenerzähler. Der fasst Ihre Erlebnisse in prägnanter Form zusammen. Ihn erkennen Sie an den Worten »nie« und »immer«: »Nie erlaubte uns Vater ein Vergnügen« - »Meine Mutter tröstete mich immer« - auch wenn das faktisch längst nicht immer der Fall war.
Der Geschichtenerzähler in Ihrem Gedächtnis bewahrt zwar viel Wahres auf: Erkenntnisse, die wichtig sind für Ihre Lebenserfahrung. Er neigt aber zu holzschnittartigen Vereinfachungen, zu Übertreibungen, und er ist sehr fixiert auf Negatives. Dies ist in der menschlichen Gehirnstruktur eingebaut, denn wir sollen schließlich aus Fehlern lernen, und deshalb werden unangenehme Erfahrungen besonders gut gespeichert.
Auch in Bezug auf die Gegenwart ist unser Gehirn empfänglicher für Unglück als für Glück. Negative Botschaften bannen unsere Aufmerksamkeit, schlechte Nachrichten machen gute Erfahrungen zunichte. Der österreichische Benediktinermönch David Steindl-Rast, der seit einem halben Jahrhundert in den USA lebt, hat herausgefunden, wie die Tür zu einem Leben in Dankbarkeit aussehen kann. Es ist die Überraschung. Eine winzige verblüffende Beobachtung kann der Ausgangspunkt zu einem ganz anderen Blick auf die Wirklichkeit sein. Plötzlich - ein Regenbogen. Das Staunen über die Sterne in der Nacht. Wenn man einem Tier zusieht. Oder ein wunderbares Flackern in den Augen eines anderen Menschen, eine Berührung, eine Stimme. Was uns erstaunt aufschauen lässt, sagt Steindl-Rast, öffnet »die Augen unserer Augen«. Ein paar Millimeter Überraschung können zu Kilometern an Dankbarkeit führen.
JesusLuxus-Anregung: Führ en Sie ein Überraschungstagebuch
Schreiben Sie jeden Abend mindestens drei Beobachtungen des vergangenen Tages auf, bei denen Sie gestaunt haben. Gelungene Momente, kleine Erfolge, gute Begegnungen. Es ist wichtig, das schriftlich zu tun. Wer schreibt, bleibt. Ihre Wahrnehmung stellt sich allmählich um, und Sie werden misstrauischer gegenüber den Verallgemeinerungen Ihres inneren Geschichtenerzählers. Sie werden Ihrem Faktensammler wieder eine Chance geben. Fragen Sie sich bei Erinnerungen, je älter Sie werden: Wie war es tatsächlich? »Nie erlaubte uns Vater ein Vergnügen.« Sind diese Sätze mit »nie« und »immer« wirklich wahr? Das ist ein wichtiger Lernschritt auf dem Weg zur Dankbarkeit.
Bedürftigkeits- und Dankbarkeitsmodus
Bei vielen Geräten gibt es verschiedene Betriebszustände, sogenannte Modi. Mit einem Handy können Sie beispielsweise im Telefonmodus telefonieren und im Fotomodus Bilder schießen. Beim Menschen, habe ich gemerkt, gibt es auch verschiedene Betriebsarten. Wenn wir auf die Welt kommen, sind wir im Bedürftigkeitsmodus: Wir schreien, weil wir etwas zu trinken haben und geknuddelt werden wollen. Dieser Bedürftigkeitsmodus kann ganz schön lange anhalten, bei manchen Menschen ein Leben lang. Immer brauchen sie etwas, das ihnen ihre Umgebung zur Verfügung stellen soll. Sie vergleichen sich mit anderen und finden, dass ihnen das Gleiche zusteht. Wirkliche Zufriedenheit stellt sich in diesem menschlichen Betriebszustand nur für kurze Zeit ein.
Glücklicherweise gibt es noch einen zweiten Betriebszustand, den Dankbarkeitsmodus. Es ist gut, wenn ein Kind möglichst bald in der Lage ist, in ihn umzuschalten. Vermutlich ist es für viele Eltern ein unbewusstes Erziehungsziel, ihrem Kind die Vorzüge dieses menschlichen Betriebszustands zu vermitteln. Im Dankbarkeitsmodus entwickelt der Mensch die Einsicht, dass die vielen Annehmlichkeiten um ihn herum nicht selbstverständlich sind, sondern das Produkt einer unüberschaubar großen Zahl von Helfern: Wie viele Menschen, Bauprojekte und Erfindungen sind daran beteiligt, dass gutes Trinkwasser einfach aus der Leitung kommt! Welcher Aufwand hinter den Kulissen ist nötig, dass ein Supermarktregal stets wie selbstverständlich mit allen Waren in ausreichender Menge gefüllt ist!
Vor allem aber: Wer nur im Bedürftigkeitsmodus lebt, kann keinen Luxus empfinden. Denn jedes Bedürfnis, das gestillt wird, ruft ein weiteres Bedürfnis hervor. Materieller Luxus ist daher einem ständigen Wandel unterworfen. Fließendes Wasser im Haus wurde viele Jahrhunderte lang als enormer Luxus empfunden, heute gilt es in den Industrieländern auch in armen Verhältnissen als Standard, keinesfalls als Luxusgut. Noch Mitte der 1960er-Jahre konnte einem Schuldner das Fernsehgerät gepfändet werden.
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