Jetzt! - die Kunst des perfekten Timings
Das Problem besteht aber nicht nur in falschen Anreizen, verborgenen Risiken oder der schlichten Unterlassung, diese Risiken zu erklären. Was wir brauchen, ist vielmehr eine neue Erklärungskategorie mit dem Namen »polyphone Risiken« – zu dem Zweck, sämtliche Risiken durch eine Vielfalt von Akteuren aufzuzeigen, die alle im Eigeninteresse ihren jeweils eigenen Kurs unter wechselnden Bedingungen verfolgen. Nur eine solche klar präsentierte polyphone Offenlegung würde es Investoren ermöglichen, das tatsächliche Risiko ihrer Investitionen zu verstehen.
Wir können sicher nicht alle Situationen, Ereignisse, Konkurrenten oder Prozesse im Auge behalten. Aber wir können trainieren, unser Blickfeld so zu erweitern, dass wir die Auswirkungen vielfältiger Handlungsstränge, ihre Wechselwirkungen und Einflüsse aufeinander über die Zeit hinweg erfassen. Wenn jemand Ihnen vorschlägt, als Einzelner oder als Institution ein Projekt zu sponsern oder eine Investition zu tätigen, sollten Sie sich fragen, wie viele Ereignisse, Vorgänge oder Aktivitäten gleichzeitig stattfinden werden und wie sich deren Wechselbeziehungen im Laufe der Zeit auswirken könnten.
Selbst bei Bauwerken wie zum Beispiel Brücken hat Synchronizität Auswirkungen. Wie der Ingenieur und Autor Henry Petroski anmerkte,gehen Menschen normalerweise nicht im Gleichschritt, aber wenn sie sich auf einer Brücke befinden, die zu schwingen anfängt, neigen sie dazu, ihre Schritte zu synchronisieren, um die Balance zu halten. Die Folge ist eine positive Rückkopplung, die die Brücke nur noch stärker schwingen lässt. 29
Nach Ansicht von Thomas Friedman, einem Kolumnisten der New York Times , werden wir in Zukunft häufiger in globalem Maßstab mit Synchronrisiken konfrontiert sein. Als Beleg führt er Konflikte in der arabischen Welt und in Europa im Jahr 2012 an. Im Nahen Osten konnten, wie er sagt, »die Jugendlichen durch diese Hyperkonnektivität [die ständige Verbindung aller mit allen] besser erkennen, wie weit sie zurücklagen – mit allen Ängsten, die das schürte –, und folglich kommunizieren und sich zusammenschließen, um etwas dagegen zu unternehmen«. In der Europäischen Union offenbarte die Hyperkonnektivität, »wie wenig wettbewerbsfähig manche ihrer Volkswirtschaften waren, aber auch, in welch großer Abhängigkeit sie sich mittlerweile voneinander befanden. Es war eine tödliche Kombination.« 30 In beiden Fällen erwächst das Synchronrisiko aus zwei Faktoren, Globalisierung und Informationstechnologie, die dafür sorgen, dass die Welt nicht nur verbunden, sondern hyperverbunden ist.
In der Wirtschaft stellt sich die Frage, ob dieselben Bedingungen der Konnektivität und Interdependenz – also Verbindung und gegenseitige Abhängigkeit – zu einem steilen Anstieg der Inflation führen werden, wenn die Volkswirtschaften der Welt sich gleichzeitig zu erholen beginnen. Und in Hinblick auf das Timing fragt sich, wie viel Vorwarnzeit wir im Verhältnis zur Vorlaufzeit haben werden, die wir brauchen, um mit diesem Risiko umzugehen.
Wenn wir die Polyphonie nicht berücksichtigen, können wir die falschen Schlüsse ziehen. So untersuchte das Preisvergleichsportal Extrabux 2012 den günstigsten Zeitpunkt für Studenten, ihre Fachbücher im Internet zu kaufen und zu verkaufen. Es fand heraus, dass am Anfang und Ende des Herbstsemesters, also vom 20. bis 26 August und vom 7. bis 13. Januar, die besten Zeitfenster waren. Bis hierhin entspricht das Ergebnis dem gesunden Menschenverstand. Interessant war jedoch, was Extrabux über das Verhältnis von Angebot und Nachfrage herausfand:Manchmal fallen die Online-Preise, wenn die Nachfrage nach Produkten steigt. 31 Die meisten von uns glauben, es müsste genau umgekehrt sein: Bei hoher Nachfrage müssten die Preise steigen, nicht fallen.
Erst bei genauerem Hinsehen zeigt sich, warum dieses Phänomen auftritt und wie es mit Polyphonie zusammenhängt. Dazu müssen wir uns die Aktionen von Käufern und Verkäufern im Laufe der Zeit ansehen. Wie verhalten sie sich? Wenn der Semesterbeginn näherrückt, wird Studenten klar, dass es für ihre gebrauchten Bücher keinen Markt mehr gibt, sobald die Seminare angefangen haben; möglicherweise verwenden die Professoren im folgenden Jahr auch nicht das gleiche Buch. Verkäufer eines Produkts, das sich seinem Verfallsdatum nähert, geraten zunehmend in Bedrängnis, zumal wenn sie das Geld brauchen, um ihre Bücher für das neue Semester zu kaufen.
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