Jetzt ist gut, Knut (German Edition)
wohl ziemlich beeindruckt. Erst vorgestern, als wir wieder auf einen Kaffee bei Bruno saßen, hatte er das noch mal gesagt. Und mir das Du angeboten. Mit einem ganz süßen Lächeln. Aber das bedeutete natürlich nichts.
Marie-Anne sah auf ihre elegante kleine Armbanduhr. Cartier oder Ebel, ich war mir nicht sicher. »Leider muss ich jetzt los, Lillian. Aber ich hoffe doch sehr, dass wir unser Gespräch fortsetzen können?« – »Na ja, das war ja wohl eher ein Monolog meinerseits. Entschuldigen Sie bitte, ich hab schon wieder viel zu viel von mir geredet. Und ja, ich würde mich auch sehr freuen.« – »Machen Sie sich mal keine Sorgen, ich weiß, wie das ist, wenn man viele Dinge mit sich selbst abmachen muss und sich zu vieles anstaut.« Ich holte eine meiner frisch gedruckten Lillian-Reich-Visitenkarten aus der Jackie und gab sie ihr. Sie steckte sie ein und sagte: »Eines möchte ich aber noch loswerden, Frau Reich, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen: Verdrängen Sie Ihre Wünsche und Träume nicht. Manchmal ist es wichtig, loszulassen und neue Wege zu gehen.« Damit wickelte sie sich ihren Schal um, setzte die Mütze auf und gab mir die Hand. »Wir telefonieren.« Dann war sie weg. Ich trank nachdenklich meinen Sekt aus, goss mir auch noch den Rest aus Marie-Annes Pikkolo ein und merkte plötzlich, dass ich vor mich hin summte. Ich war noch niemals in New York, ich war noch niemals richtig frei. Einmal verrückt sein und aus allen Zwängen fliehn … Wie albern. Ich zahlte, stylte mich auf der Toilette von Lillian auf Lilli um und ging.
Es war noch Zeit für einen kleinen Ausflug in die Innenstadt. Marie-Anne hatte ganz recht, ich sollte meine Wünsche und Träume nicht unterdrücken. Eine knappe Stunde später war ich stolze Besitzerin eines Smartphones, das in seiner modernen Pracht ganz wunderbar zu meiner Jackie passte. Knut würde ich das Telefon als vorgezogenes Geburtstagsgeschenk verkaufen. Schnell erstand ich noch einen Stringtanga der mittleren Preisklasse. Dieses zarte Nichts aus Spitze würde mir in nicht allzu ferner Zeit viel Freude bereiten, da war ich mir ganz sicher. Und wäre ich nicht beim Nachhausekommen vor der Haustür fast mit dem Sanitäter-Nachbarn zusammengestoßen (»Ich kenn Sie, ich komm schon noch drauf!«) und hätte nicht meine Mutter angerufen, es wäre ein perfekter Tag gewesen.
»Elisabeth!« Meine Mutter schaffte es, dass ich mich schon schuldig fühlte, wenn sie nur meinen Namen aussprach. »Hallo, Mama, wie geht’s dir?« – »Das wüsstest du, wenn du dich ab und zu mal melden würdest!« – »Gibt es was Besonderes? Wir haben doch erst Sonntag telefoniert.« – »Ich brauche ja wohl keinen besonderen Grund, um meine Tochter anzurufen!« Meine Mutter ist ein sprechendes Ausrufezeichen. »Nein, Mama, natürlich nicht.« – »Kind, was sagt dir der Begriff Volumetrics?« Leider ist sie auch begeisterte Leserin der Apotheken-Zeitschrift. – »Nichts. Sollte er?« – »Aber unbedingt!« Ich wusste genau, was jetzt kam, auch wenn ich das Wort noch nie gehört hatte. »Das ist eine Methode zum Abnehmen ohne Diät, da soll man Lebensmittel zu sich nehmen, die eine möglichst niedrige Energiedichte haben, aber viel Volumen. Damit kann man ganz leicht jede Woche ein Pfund abnehmen.« Seit ich vor fünfzehn Jahren mit dem Rauchen aufgehört und ein paar Kilo zugelegt hatte, lag sie mir mit dem Thema in den Ohren. Da konnte ich machen oder sagen, was ich wollte. Ich erinnere mich noch sehr gut an jenen denkwürdigen Tag, an dem ich alle Versuche, mir ihre ständige Kritik zu verbitten, aufgab. Und an dem ich die tiefere Bedeutung des Wortes Erkenntnisresistenz begriff.
Es war während eines Besuches meiner Eltern bei uns in Hamburg. Während Mutter in meinem Ohr weiter über volumenreiche Lebensmittel schwadronierte, sah ich uns wieder gemeinsam in der Küche stehen. Nach dem Mittagessen (»Sahnesoße? Meinst du nicht, dass ein leichter Salat besser für dich wäre?«) machten wir den Abwasch. Ich sagte: »Mama, ob ich zu dick bin oder nicht, ist ganz allein meine Sache. Bitte hör auf, andauernd darüber zu reden.« – »Tue ich das?« – »Ja, das tust du.« Eine Weile polierte sie schweigend ein Glas. Dann sagte sie: »Aber Kind, ich meine das nicht so. Ich finde dich doch nicht zu dick, ich liebe dich so, wie du bist!«
Zwei Stunden später in der Innenstadt. Mama und ich gehen zu einem kleinen Café an den Alsterarkaden. Es ist voll, kein freier Tisch zu finden.
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