Jetzt ist gut, Knut (German Edition)
weiß ich auch nicht.« Richard selbst sah mal wieder aus wie das blühende Leben. Keine Ahnung, wie er das machte, bei all dem Stress in seinem Job. Unten klingelte ein Glöckchen. – »Das soll wohl heißen, dass das Essen fertig ist. Na, dann mal los, Schwesterchen.« Mama wusste sich eben zu helfen.
Normalerweise wusste sie auch zu kochen. Aber heute gab es nur Brot, westfälischen Schinken mit Gurken und einen Salat. Richard und ich sahen uns über die Teller hinweg an. Unsere Konversationsversuche hatten wir eingestellt. Trotz der angenehmen Raumtemperatur im Esszimmer war mir kalt. Besonders locker ging es bei meinen Eltern eigentlich nie zu, aber heute bekam das Wort steif eine ganz neue Dimension. Ich räumte den Tisch ab, während Mutter den Kaffee vorbereitete und ins Wohnzimmer brachte.
Wir alle setzten uns. Mutter und ich auf das eine Sofa, Papa und Richard gegenüber. Auf Papas Stirn standen feine Schweißperlen. Er rührte in seinem Kaffee, blickte niemanden an. Die Stille im Zimmer wurde nur durch das überlaute Ticken einer antiken Standuhr und das Geräusch des Löffels in der Tasse durchbrochen. Endlich räusperte er sich, richtete sich auf und sah meine Mutter an. Auch ich drehte den Kopf. Mutters Profil war wie aus Stein gemeißelt. Sie saß stocksteif und regungslos da, nur eine kleine Ader pulsierte an ihrer Stirn.
»Die Sache ist die«, setzte Papa an, »ihr bekommt eine Schwester.« Bitte? Mama ging immerhin auf die siebzig zu. »Also, genau genommen habt ihr sie schon.« Er war wirklich kein begnadeter Redner. Richard schaltete schneller als ich. »Du hast jemanden geschwängert!« Neben mir zuckte Mutter zusammen. Ihre auf dem Schoß verschränkten Hände zitterten. Man möge es dem Schock zuschreiben, aber ich fing völlig unkontrolliert an zu kichern. »Dann hast du wohl nicht nur einen Mann mit Potential geheiratet, Mama, sondern auch mit Potenz. Und das in deinen Kreisen!« Ich konnte nicht anders, ich lachte und lachte, bis Papa scharf »Elisabeth!« sagte. Mutter machte den Mund auf und zu wie einer der Kois in ihrem Gartenteich.
Richard versuchte mit mäßigem Erfolg, sich ein Grinsen zu verkneifen. »Und wie alt ist diese Frucht deiner Lenden?«, fragte er. – »Knapp neunzehn.« Er hatte uns fast zwanzig Jahre lang eine Tochter verschwiegen? Aber wieso? Und warum erzählte er uns jetzt von ihr? Die Antwort war denkbar einfach. Er hatte nichts von ihrer Existenz gewusst. Bis sie vor der Tür stand. Das war jetzt zehn Tage her. Kein Wunder, dass Mutter ihre Stimme überreizt hatte. Ich konnte förmlich hören, wie sie Zeter und Mordio schrie.
»Da kann ja jeder kommen«, meinte Richard. »Da musst du doch erst mal einen DNS-Test machen lassen.« Wortlos zog Papa ein Foto aus der Innentasche seines Jacketts. »Sie heißt Sina.« Richard sah sich das Bild an und reichte es an mich weiter. Das Mädchen war unserem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Keiner von uns sah ihm so ähnlich wie sie. Nur die Haarfarbe stimmte nicht.
»Und wer ist die Mutter?« – »Eine Physikerin. Ich habe sie auf einem Erfinderkongress kennengelernt. Und, na ja, da ist es eben passiert.« – »Ging das lange mit euch?«, wollte ich wissen. – »Nein. Ich hab sie nach dem Kongress nicht wiedergesehen. Sie hat mir nie gesagt, dass sie ein Kind bekommen hat.« Mutter kritzelte etwas auf einen Zettel. »Schwanzgesteuerter Lügner!« konnte ich lesen, ehe sie ihm das Papier entgegenhielt. »Annegret – es reicht! Es ist nun einmal passiert, und du wirst damit leben müssen. Es sei denn, du willst, dass ich gehe. Überleg dir gut, ob du das alles hier behalten willst oder nicht!« Mein stiller Vater drohte meiner Mutter? Der Tag steckte wirklich voller Überraschungen.
Er verfiel wieder in Schweigen. Wir alle schwiegen, jeder in die eigenen Gedanken vertieft.
Eine Schwester. Jünger als Julia. Seltsame Vorstellung. Mein Vater in wilder Leidenschaft. Noch seltsamer. Auch wenn es schon zwanzig Jahre her war. »Und jetzt?«, fragte ich. Vater sagte: »Ich erkenne Sina natürlich an und komme für ihr Studium auf.« – »Grrrrr«, machte meine Mutter. – »Selbstverständlich ist sie auch erbberechtigt.« Die kleinen Dampfwolken vor Mutters Nase bildete ich mir nur ein. Hektisch fing sie wieder an zu schreiben. »Kein Wort zu irgendwem. Das bleibt in der Familie!« Typisch Mama. Immer den schönen Schein wahren.
Später am Nachmittag ging ich in das Nebengebäude, in dem mein Vater sich seine
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