Jetzt wirds ernst
dem Schildchen war in einer anderen Buntstiftfarbe hingekrakelt. Wir gingen hinein. Das Zimmer war
winzig, Helmut schien nicht mehr viele Ansprüche zu haben. Auf dem Boden neben dem Bett stand ein Paar ausgefranster Hausschlappen, daneben ein seltsamer Plastikbehälter, aus dem eine Art
Röhre in die Luft ragte. Als ich das Ding vorsichtig anstupste, schwappte und gluckste es im Inneren leise. Auf dem Nachtschränkchen lag eine längliche Plastikschachtel mit mehreren
kleinen Fächern, in denen eine Menge bunter Pillen lagen. Das sah appetitlich aus.
Max nahm sich eine dicke rote und steckte sie in den Mund. Ich wollte etwas vorsichtiger sein und nahm eine winzigkleine blaue. Sie schmeckte enttäuschend, nämlich nach nichts. Max
griff sich eine gelbe und schluckte sie hinunter. Ich erwischte eine rosarote. Er eine kugelrunde weiße. Ich eine stäbchenförmige grüne. Wir nahmen uns jedes der Fächer
vor, eins nach dem anderen, wir probierten sie alle, von jeder Farbe, jeder Form und jeder Größe jeweils eine. Und dann alles nochmal von vorne.
Schließlich war die Schachtel leer. Ich schmiss sie in eine Ecke, ließ mich rückwärts auf das Bett fallen und schloss die Augen. Die Metallstreben unter mir knirschten
leise, die Matratze bebte leicht. Das ganze Bett schien irgendwie in Bewegung gekommen zu sein. Ich machte die Augen wieder auf. Über mir stand Max und grinste. Plötzlich aber drehte er
sich um und lief aus dem Zimmer. Ich sprang auf und rannte hinterher.
Wir stürmten schreiend durch die Gänge, schlitterten um die Ecken, polterten gegen Gummibäume, rempelten Tischchen und Stühle um. Im Eingangsbereich kullerten wir ein paar
Minuten über die Auslegeware, sprangen wieder hoch und fielen uns in die Arme. Wir waren völlig durchgeschwitzt, unsere Gesichter leuchteten, unsere Köpfe waren heiß wie
Öfen. Fast gleichzeitig fiel unser Blick auf das Wandregal hinter uns. Es reichte bis an die Decke und war bis obenhin vollgestopft mit Broschüren. Wir verloren keine Zeit. Sofort
begannen wir damit, die Heftchen eins nach dem anderen aus den Fächern zu reißen, sie zu zerfetzen und sie uns um die Ohren zu hauen, bis sich die Seiten lösten und im ganzen
Eingangsbereich herumflatterten.
Als wir das Regal leer geräumt hatten, blieben wir keuchend stehen und sahen uns an. Max machte einen ziemlich ramponierten Eindruck. Schief und ein wenig vornübergebeugt stand er da,
den Kopf leicht gesenkt, die Arme fest vor dem Bauch verschränkt. Sein Gesicht war dunkelrot, aus der Nase baumelte eine lange Rotzglocke, darüber glänzten die Augen wie hellblaue
Glasmurmeln. Sein Blick sprang gehetzt hin und her. Er schien etwas zu suchen. Irgendwo hinter mir. Ich drehte mich um. Aber da war nichts. Außer vielleicht dieses Rauschen. Irgendwo rauschte
es. In den Mauern, in der Decke, hinter den Türen. Oder nur in meinem Kopf? Ein leises, gleichmäßiges Rauschen war das. Ich fasste mit beiden Händen an meine Wangen. Sie waren
glühend heiß. Und plötzlich spürte ich den Durst. Ein brennendes Ziehen in der Kehle. In der Brust. Im Bauch.
Ich sah mich um. Zwei Türen ganz in der Nähe waren nicht hellgrün wie die anderen, sondern weiß. Ein Mann im Rollstuhl auf der einen Tür, eine Frau im Rollstuhl auf der
anderen. Ich nahm die mit der Frau, beugte mich unter den Wasserhahn und trank aus vollen Zügen. Das Wasser schmeckte übel, abgestanden und ölig. Und es konnte meinen Durst nicht
stillen. Ich trank und trank, riss den Mund auf, schluckte, gurgelte, sabberte, hielt schließlich den ganzen Kopf unter den Hahn, aber dieses ölige Gesöff perlte völlig
wirkungslos durch meine Kehle, durch meinen ganzen Körper.
Ich rannte aus der Toilette und auf Max zu. Mir war klar, dass ich ihn warnen musste, ihn beschwören, ihn schütteln, ohrfeigen, durchprügeln, ihm seinen rotweißen Kopf von
den Schultern hauen musste. Immer noch stand er mit gesenktem Kopf und vor dem Bauch verschränkten Armen da. Doch irgendetwas stimmte nicht. Irgendetwas war anders. Ich wurde langsamer und
blieb stehen. Er hob den Kopf. Blickte mir direkt in die Augen. Hob die Oberlippe. Senkte sie wieder. Schniefte.
»Max?«, fragte ich zaghaft.
Statt einer Antwort hob er die Arme hoch über seinen Kopf und begann mit winzigen Schritten seitlich wegzutrippeln.
»Max!«, schrie ich und wollte hinterher. Aber ich kam nicht vom Fleck. Meine Füße bewegten sich keinen Millimeter.
Ich klebte fest. Und auf einmal merkte ich,
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