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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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wie der Boden nachgab, wie das Linoleum schmolz, wie sich der Beton darunter aufweichte und zu einer zähen, dickflüssigen Masse zerfloss.
Bis zu den Knöcheln steckte ich in einem harzigen Brei. Mit einem hellen Aufschrei ließ ich mich nach vorne fallen, wollte meinem Körper so viel Auftriebsfläche wie
möglich geben. Ich schlug gleichzeitig mit Nase und Kinn auf. In meinem Kopf blitzte es, grüne Leuchtpunkte stiegen direkt vor meinen Augen auf, zogen in weiten, hohen Bögen durchs
Tiefschwarz des Weltalls, bevor sie am Höhepunkt kurz innehielten und explodierten. Es regnete Farben. Grün. Blau. Rot. Orange. Gelb. Und auf einmal drückte mich irgendeine gewaltige
Kraft hoch und schob mich vorwärts. Da bemerkte ich den Strom unter mir, heiß, leuchtend rot an der Oberfläche und tief grollend in seinem Inneren.
    Ich schwamm auf einem gewaltigen Lavastrom.
    Träge und unaufhaltsam wälzte er sich den Altersheimgang entlang. Um mich herum zerploppten große, dickflüssige Blasen, es blubberte und zischte, dünne Rauchsäulen
stiegen hoch und breiteten sich zu einer giftig gelben Wolkendecke aus.
    Ich sah, wie eine Gummipflanze mitgerissen wurde, wie sie sofort lichterloh brannte und eine Sekunde später mit einem knisternden Ächzen versank. Die Hitze begann mir die Augen aus dem
Schädel herauszuschmelzen, die giftigen Dämpfe brannten meine Lunge aus.
    Gleichzeitig war es unfassbar schön. Ich fühlte mich leicht und frei. Aufgehoben und getragen von etwas Größerem und Stärkerem als mir selbst. Und da ließ ich
los. Ließ mich einfach treiben. Es war ja alles so einfach. Es war ja alles gut!
    Mit einem nachsichtigen Bedauern sah ich noch, wie Max auf allen Vieren an der Wand hochkroch, oben an der Kante kurz anhielt, und schließlich direkt über mir wie eine Fliege die
Decke entlangkrabbelte.
    Ich lächelte.
    Als die Altersheimbewohner nach einem langen Tag in der lokalen Blumenausstellung mit anschließendem Konditoreibesuch müde und auf wackligen Beinen in den Marienmond
zurückkamen, bot sich ihnen ein erschreckender Anblick. Der Eingangsbereich war übersät mit Zeitschriften, Krankenkassenbroschüren und losen Blättern. In den Gängen
waren Tische und Stühle umgekippt, dazwischen lagen überall gehäkelte Tischdecken. Die Gummibäume waren aus den Töpfen gerissen, die Zimmertüren standen weit offen, im
Damenklo rauschte das Wasser. Und inmitten dieses ganzen Durcheinanders befanden sich zwei kleine Jungen. Der eine lag mit heruntergelassener Hose in seiner eigenen Pfütze im Gang, der andere
hockte zusammengekrümmt in einer Ecke und murmelte in einer fremden, seltsam singenden Geheimsprache vor sich hin.
    Die Alten beratschlagten sich. Das heißt, sie schrien mit sich überschlagenden Stimmen und wild durcheinander piepsenden Hörgeräten aneinander vorbei. Manche wollten die
Polizei rufen, andere die Feuerwehr, die meisten beide zusammen und gleich noch die Rettung dazu. Der bucklige Herr Pfänder erhob beschwörend die Arme und verkündete mit zittriger
Fistelstimme, dass hier ganz eindeutig der Teufel seine Finger im Spiel habe und dass der Beelzebub bekanntlich nur durch gemeinsames Gebet und Buße wieder zurück in seinen
Höllenpfuhl getrieben werden könne. Da allerdings kein Mensch Herrn Pfänders eindrückliche Worte hören wollte, latschte er beleidigt auf sein Zimmer, um dort für den
Rest des Tages auf einer Handtuchrolle vor seinem Bett zu knien und vierhundert Rosenkränze zu beten.
    Mehr Beachtung fand ein anderer Vorschlag: Man solle doch, meinte eine kleine, aber resolut auftretende Fraktion, diesen kleinen Drecksgaunern die Hände abhacken oder den Kopf oder am
besten überhaupt gleich alles und hernach die noch einigermaßen brauchbaren Teile an die Kanalratten verfüttern, die Nacht für Nacht (übrigens unbemerkt oder still
geduldet von der Heimleitung!) den Küchenhintereingang bevölkerten und in den Mülltonnen herumlärmten.
    Wahrscheinlich hätte sich diese Idee auch durchgesetzt, wenn nicht Max’ Großvater für einige wenige Augenblicke aus seiner täglichen Nachmittagserstarrung erwacht und
in einem Anfall von Klarsichtigkeit seinen Enkel erkannt hätte.
    »Max, du kleiner Trottel!«, sagte er und schlief wieder ein.
    Jetzt ging alles schnell. Der Heimleiter, der Heimleiterstellvertreter, die Tagesschwester und der Hausmeister kamen angerannt. Der Heimleiter und sein Stellvertreter waren entsetzt, die
Schwester war besorgt, der Hausmeister war

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