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Jetzt wirds ernst

Jetzt wirds ernst

Titel: Jetzt wirds ernst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Seethaler
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mit den Schwielen an seinen Fingern wuchs ein
völlig unbekannter Ehrgeiz in ihm heran. Und im Laufe der Zeit lösten sich seine Träume von einer Laufbahn als Botaniker oder Apotheker langsam, stetig, tröpfchenweise aus
seinem Kopf, um gemeinsam mit dem Stirnschweiß für immer im Ziegenhaargewirr zu versickern. Übrig blieben ein kleines, kaum noch wahrnehmbares Wehmutsgefühl und eine leise
flackernde Sehnsucht.
    Als irgendwann auch das letzte Fell frisiert und zugeschnitten war, setzte man ihn vor einen Styroporkopf mit ausdrucksleerem Gesicht und täglich wechselnden Echthaarperücken. Eine
Weile starrten sich die beiden an, schließlich machte sich Vater ans Werk.
    Unter den strengen, aber wohlwollenden Anweisungen der Eltern wurde er schnell besser. Immer flinker flogen seine Hände über den leise knirschenden Kopf, immer geschickter wurde seine
Kammführung, immer sicherer der Umgang mit Schere, Fön und Lockenwicklern.
    Eines Tages war es soweit: Vater legte sein Werkzeug weg, boxte den Styroporkopf mit einem etwas linkischen Aufwärtshaken vom Tisch und verlangte selbstbewusst nach einem Kunden. Oder einer
Kundin. Jedenfalls nach einem echten Menschen aus Fleisch und Blut und mit Haaren. Seine Eltern sahen sich an. Und schon am nächsten Tag stand Vater hinter einem älteren
Frühpensionär namens Scharnigl und schnitt dessen gelblich-schütteres Haar. Und er machte seine Arbeit gut.
    Herr Scharnigl blickte in den Spiegel, räusperte sich ein paar Mal, rückte umständlich seinen Krawattenknopf zurecht, nickte zufrieden, gab ein paar Groschen Trinkgeld und ging.
Vater reinigte Schere und Kamm und fegte gewissenhaft die gelblichen Haarknäuel zusammen. Dabei hört er in seiner Schürzentasche leise Herrn Scharnigls Münzen klimpern. Und auf
einmal spürte er, wie in seiner Magengegend ein kleiner Knoten platzte und wie sich daraus eine Wärme ergoss, die sich überallhin ausbreitete, zuerst in den Bauch, dann hinunter in
die Lenden, gleich darauf hoch in die Brust, noch höher in den Hals und schließlich in den Kopf. Sein ganzer Körper war plötzlich ausgefüllt und fast ein wenig
aufgebläht von dieser seltsamen, weichen Wärme. Das war der Stolz.
    Zwar schrumpfte mein aufgeblähter Vater in den nächsten Jahren ganz langsam wieder auf Normalgröße zusammen, seinen Stolz aber verlor er nie mehr. Er hatte seine Berufung,
seinen Platz und seinen Sinn im Leben gefunden.
    Er war Friseur.
    An jedem Arbeitstag stand er gerne auf, ging noch lange vor seinen Eltern in den Salon hinunter, zog die laut knatternden Rollläden hoch, füllte seine gelbe Gießkanne mit Wasser
aus dem Duschkopf über dem Haarwaschbecken und wässerte damit die Blumen oder das Grünzeug auf dem Zeitschriftentisch. Dabei vergaß er nie, den Pflanzen ein paar freundlich
geflüsterte Worte für den Tag mitzugeben. Anschließend band er sich sorgfältig seine Schürze um, strich sie mit zwei schnellen Bewegungen entlang der Oberschenkel glatt,
sperrte die Eingangstür auf, trat ins Freie, stellte sich auf die Zehenspitzen und begann sich mit leise knackendem Kreuz zu dehnen und zu strecken. Immer das Gleiche, an jedem Arbeitstag, zu
jeder Jahreszeit, bei jedem Wetter: Ins Freie treten. Auf die Zehenspitzen. Dehnen. Strecken. Dem leisen Kreuzknacken nachspüren. Danach konnte der Tag beginnen.
    Ein paar Jahre lang führten sie den Salon zu dritt. Als mein Großvater völlig überraschend die Schere wegen einer Lungenembolie abgeben musste, und ihm die Großmutter
vier Wochen später nicht ganz so überraschend nachfolgte, entschloss sich Vater, den Salon für ein paar Tage zu schließen. Zum ersten und zum letzten Mal in seinem Leben.
    Er ging zum Grab seiner Eltern. Weinte. Ging wieder nach Hause. Lag im Garten unter dem Kirschbaum. Schnitt die Hecke. Pflegte seine Kräuter. Sprach mit seinen Blumen. Weinte noch ein
bisschen. Starrte ins Gras oder in den Himmel. Schließlich steckte er eines Abends die Gartenschere ins Petersilienbeet, ging in sein Zimmer, schlüpfte in seinen Sonntagsanzug, einen
hellbraunen Zweireiher, band sich eine gestreifte Krawatte um und verließ das Haus. Mit der Straßenbahn fuhr er in die Innenstadt und suchte ein Tanzlokal auf, von dem ihm die sehr alte
Stammkundin Frau Greitlinger einmal mit kopfschüttelndem Missfallen erzählt hatte.
    Drinnen war es unangenehm laut, aber angenehm dunkel. Vater stellte sich an die Theke, bestellte zwei Biere und zwei Schnäpse und kippte alles möglichst

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