Jetzt wirds ernst
immer noch besoffen von den vielen Likören in der Konditorei. Ein Krankenwagen und eine polnische Putzkolonne wurden gerufen und an die Heimbewohner
wurde eine Extraportion Pillen verteilt. Max und ich wurden mit Blaulicht ins städtische Krankenhaus gebracht. Man behandelte uns recht anständig, pumpte uns die Mägen aus und
schloss uns für eine Nacht und einen halben Tag an einen Salzwassertropf an. Danach ging es nach Hause.
Während der nächsten vier Tage konnte ich keine feste Nahrung bei mir behalten und mich nur mühsam, mit zittrigen Knien und schleifenden Füßen zwischen Bett und
Toilette hin- und herbewegen. Am fünften Tag wurde ich am frühen Morgen von einer fetten Fliege geweckt, die mit voller Wucht gegen meine Fensterscheibe geknallt war. Ich stieg aus dem
Bett, riss das Fenster weit auf und schnippte die kleine Leiche vom Fensterbrett in den flirrenden Sommer hinaus.
Da stand ich nun, ein dünner, nackter, noch etwas blasser Junge im offenen Fenster. Durch die Kirschbaumblätter blitzten mir die ersten Sonnenstrahlen ins Gesicht. Ich kniff die Augen
zusammen. In meinem Bauch blubberte es ein letztes Mal leise. Dann war er still.
EIN RISS IM UNIVERSUM
Die Tage im Friseursalon tröpfelten wie gewohnt vor sich hin. Mittlerweile war ich zu groß, um in der Ecke auf einer Wolldecke zu sitzen. Stattdessen saß ich
jetzt manchmal auf einem niedrigen Höckerchen am Fenster und sah dem Treiben zu. Obwohl von einem Treiben eigentlich gar keine Rede sein konnte. Es tat sich ja nicht viel, die Geschäfte
liefen schlecht, und auch die Damen vom Stadtrand bemühten sich mittlerweile lieber in die Straßenbahn, um zu dem erst kürzlich eröffneten Friseursalon in der Innenstadt zu
fahren. An der Haltestelle konnte man beobachten, wie sie als herkömmliche Menschen einstiegen und drei Stunden später als aufgeplusterte Paradiesvögel wieder herauskamen und stolz
ihre asymmetrisch auftoupierten Köpfe nach Hause balancierten. Selbst die meisten Bewohnerinnen der nahe gelegenen Mietskaserne, allesamt Bedienerinnen, Kassiererinnen oder andere
Dienstleistungshilfskräfte, wollten mittlerweile auf den Luxus einer derartig zeitgemäßen Balzfrisur nicht mehr verzichten und verirrten sich höchstens ausnahmsweise in unseren
kleinen Laden. Im Grunde genommen kamen nur noch ein paar wenige Stammgäste, Leute, die sich zu alt für eine Straßenbahnfahrt, aber doch noch irgendwie zu jung für das
Marienmond fühlten.
Unser Salon war winzig, und eben gerade deswegen gemütlich. Die Tapeten hatten über die Jahre ihre Farben verloren, die Muster waren nur mehr als bleiche Schatten erahnbar. Von der
Decke hing ein uralter Kronleuchter, dessen Glaskristalle jedes Mal leise klirrten, wenn sich die Tür öffnete und Kundschaft hereinkam.
Im Sommer stand die Tür manchmal den ganzen Tag offen, und man konnte den kleinen Haarknäueln zusehen, wie sie vom warmen Luftzug getrieben ins Freie kollerten. Als ob sie endlich von
ihren Wurzeln befreit in eine neue Zukunft aufbrachen, so sah das aus.
Das Linoleum am Boden war glatt und ausgetreten. Auf einem Glastischchen neben dem Eingang lagen Zeitschriften, daneben stand entweder eine Vase mit frischen Blumen oder ein Topf mit wirrem
Grünzeug aus dem Garten. Vor drei großen Spiegeln standen drei große Friseurstühle. Eine weitere Sitzgelegenheit, eine Art gepolsterter Liegestuhl, befand sich auf der
gegenüberliegenden Seite vor dem Haarwaschbecken.
Das war Mutters Wirkungsbereich. Die Haarwäsche war ihr Fachgebiet und ihre stille Leidenschaft. Manche Kunden kamen nur, um sich von ihr die Haare waschen zu lassen. Da lagen sie dann,
leise schnurrend oder laut schnarchend, die rosarot umschäumten Köpfe in ihre Hände gebettet. Unter dem sanften Streicheln, dem feinen Kitzeln, dem rhythmischen Walken und dem
energischen Kneten begannen die Leute zu schmelzen. Man konnte zusehen, wie sie immer mürber wurden, wie sie von Minute zu Minute immer tiefer im Liegestuhl versanken, bis sie
schließlich fast zur Gänze in den Polsterschlitzen zu verschwinden drohten.
Die meisten Leute aber kamen zum Schneiden. Das heißt, sie kamen zu meinem Vater.
Vor vielen Jahren hatten seine Eltern ihm Schere und Kamm in die Hände gedrückt und ihn vor einen Haufen alter Ziegenfelle gesetzt. Widerwillig hatte er angefangen, an den Fellen
herumzufrisieren und erste, schiefe Schnitte anzubringen. Überraschenderweise legte sich dieser Widerwillen aber schnell, und zeitgleich
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