Jezebel
bewegten sich. Mal hatten sie sich zu Fäusten geschlossen, mal waren sie offen. Der Bericht hatte ihn arg verstört. Die Antwort drang als unsicheres Flüstern aus seinem Mund. »Das, das kann ich nicht glauben.«
»Es stimmt. Ich bin auch froh, gerade Sie getroffen zu haben. Wie lange haben Sie die Stelle des Pfarrers schon inne?«
»Achtzehn Jahre.«
»Dann sind Sie über die Vergangenheit informiert, meine ich.«
Er hob die Schultern.
»Wie man’s nimmt. So genau kenne ich mich ja nicht aus.«
Ich ließ mich nicht aus dem Konzept bringen und wiederholte noch einmal überdeutlich die letzten Worte des sterbenden Archie Todd. Dann sprach ich weiter. »Es muß jemanden geben, vor dem Archie Angst gehabt hat. Aber nicht er allein, Mr. Glendale. Auch die anderen Bewohner von Euston wissen darüber Bescheid. Nur machen sie nicht den Mund auf. Sie behalten alles für sich. Sie leiden, sie sterben sogar, weil sie so verbohrt sind. Das muß ein Ende haben. Und dieses Ende kann nur eingeläutet werden, wenn einer redet. Springen Sie über Ihren eigenen Schatten, und erzählen Sie uns, was vorgefallen ist.«
Der Pfarrer überlegte. Er war nervös, seine Hände bewegten sich noch immer. Nur schaute er dabei an uns vorbei ins Leere. Schließlich nickte er. Damit war ein Anfang gemacht. »Ja«, gab er mit Flüsterstimme zu, »es gab da etwas.«
»Was?«
»Das liegt zehn Jahre zurück, Mr. Sinclair. Und zwar hatten wir Probleme mit der vierzehnjährigen Susan Wade.«
»Weiter.«
Er nickte. Anschließend erfuhren Suko und ich, was Susan für ein Mädchen gewesen war. Eine Einzelgängerin, die sich um nichts gekümmert, aber auch keine Freunde gehabt hatte. Bis eben auf die Insekten und Spinnen. Die hatte sie ›geliebt‹. Sie hatte die Tiere, sogar im Beisein anderer, gegessen. Man haßte sie. Man ekelte sich vor ihr.
Das wurde auch ihren Großeltern klargemacht, bei denen das Mädchen aufwuchs, weil die Eltern tot waren. Der Pfarrer nahm an, daß es mit den Großeltern Schwierigkeiten gegeben hatte, denn eines Tages war Susan von der Bildfläche verschwunden. Sie hatte das Haus verlassen und ist nie mehr gesehen worden.
»Nie mehr?« fragte Suko.
»Nicht ganz«, gab der Pfarrer zu. »Es gab schon noch einen, der sie zuletzt sah.« Er senkte die Stimme. »Es war Archie Todd, mit dem sie zusammentraf.«
»Aha.«
»Nichts aha, Mr. Sinclair. Archie wurde von ihr niedergeschlagen.«
»Warum?«
»Er hat den Grund nicht genannt.«
»Dann muß sie viel Kraft gehabt haben«, sagte Suko. »Schließlich war sie erst vierzehn.«
»Das ist richtig.«
»Und Sie haben nie mehr von ihr gehört?« Suko schüttelte den Kopf.
»Keine Nachricht?«
»Nein.«
»Auch nicht an die Großeltern?«
»Melvin Wade starb sehr bald. Es lebt nur noch seine Frau Erica. Aber auch sie hat nichts erfahren, sonst hätte ich es gewußt, denn sie ist eine eifrige Kirchgängerin und hat zu mir großes Vertrauen. Auch über die Probleme mit ihrem Enkelkind sprachen wir, aber ich konnte ihr auch keine Lösung anbieten.«
»Das glaube ich«, sagte ich leise. »Es fällt auch nicht in Ihren Bereich, Mr. Glendale.«
»Eben.« Er legte seine Hand auf den Bauch und atmete tief durch. »Nur sehen Sie mich macht- und ratlos, meine Herren. Ich komme nicht mehr klar. Hinter mir liegen fünf tote Menschen, die auf eine Art und Weise ums Leben gekommen sind, die einfach nicht wahr sein darf. Nein«, berichtigte er sich. »Jetzt sind es sechs.«
»Wir möchten sie uns ansehen«, sagte ich.
»Warum?«
»Bitte, Mr. Glendale, vergessen Sie nicht, daß wir Polizisten sind und unsere eigenen Methoden haben.«
»Gut, dann kommen Sie mit.« Er drehte sich um und drückte die Tür der Leichenhalle auf.
Augenblicklich wehte uns ein Geruch entgegen, den wir beide nicht mochten. Ich bezeichnete ihn immer als einen feuchten Leichengeruch.
Die Luft war feucht. Sie wirkte verbraucht, und sie roch nach alten Mauern, nach totem Fleisch und vielem mehr. Zumindest kam es mir so vor. Andere mochten da anders denken, aber nicht ich.
Der Pfarrer war zur Seite gegangen, so daß wir die im Innern düstere Halle betreten konnten. Ganz dunkel war es nicht, denn rechts von uns, wo fünf schlichte Särge standen, tanzten auch sechs Kerzenflammen, die durch den Luftzug in Bewegung geraten waren und ihr düsteres Muster auf die Sargdeckel warfen, aber auch auf den letzten Toten, der neben den Särgen lag und noch immer in die helle Decke eingewickelt war. Der Vater und der
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