Jezebel
können, so wenig, wie er sich an das Verschwinden der Enkeltochter gewöhnt hatte.
Zwischen den beiden war es zum Streit gekommen, denn Melvin hatte seiner Frau die Schuld in die Schuhe geschoben und ihr vorgeworfen, nicht genug aufgepaßt zu haben.
Dann war er plötzlich krank geworden. Eine lange Krankheit, die ihn an das Bett fesselte. Und er verließ es nur einmal – um eingesargt zu werden.
Der Arzt hatte nur die Schultern gehoben. Er hatte keine organische Krankheit diagnostizieren können und gemeint, Melvin wäre am gebrochenen Herzen gestorben.
Was daran stimmte, war nicht zu beweisen. In einem Krankenhaus in der Großstadt hätte man sicherlich mehr für ihn tun können, aber dorthin hatte er nicht gewollt.
Und Erica mußte dem Arzt irgendwo recht geben, denn ihr Mann hatte das Verschwinden seiner Enkeltochter nie richtig überwunden und sich so schrecklich gegrämt.
Das lag schon einige Jahre zurück. Erica Wade blieb allein. Sie hatte sich auch verändert, denn sie war zu einer Einsiedlerin geworden. Das Haus verließ sie nur, wenn es unbedingt nötig war. Dafür hatte sie das Zimmer ihrer Enkeltochter eingerichtet wie eine Gedenkstätte. An den Wänden hingen die vergrößerten Fotos des Mädchens, und Erica hatte sogar so etwas wie einen Altar gebaut, mit dem schönsten Foto in der Mitte, wo Susan dreizehn Jahre alt war und über eine Sommerwiese lief.
Lachend, fröhlich, der Welt optimistisch entgegenblickend. Umrahmt wurde die Aufnahme von zwei Kerzen, die Erica hin und wieder anzündete, wenn sie im Zimmer eine Gedenkstunde abhielt.
Den Zettel mit der Botschaft hatte sie ebenfalls verwahrt. Nur der Pfarrer wußte von ihm, und der würde schweigen, dessen war sie sich sicher.
Würde sie zurückkehren? Diese Frage quälte Erica immer und immer wieder. Tag und Nacht dachte sie darüber nach, vor allen Dingen in den einsamen Nächten.
Sie wollte Susan wiedersehen. Und wenn es nur noch einmal in ihrem Leben war, aber das mußte sie einfach schaffen. Warum tat ihr das Mädchen den Gefallen nicht?
Zehn lange Jahre gingen ins Land, und Erica quälte sich noch immer.
Sie war inzwischen über siebzig, und oft genug wünschte sie sich den Tod herbei, um wieder mit ihrem Mann vereint zu sein. Dann fiel ihr wieder Susans Versprechen ein, und sie war froh, daß sie noch lebte.
Sie würde kommen. Sie hatte es versprochen. Und Erica würde sie in die Arme schließen, als wäre sie nie fort gewesen.
Susan selbst kam nicht. Dafür aber kamen andere. Insekten. Plötzlich waren sie da. Und das, obwohl noch winterliche Temperaturen herrschten. In der Wohnung fand Erica zahlreiche Küchenschaben.
Einmal waren sie ihr sogar entgegengefallen, als sie einen Schrank geöffnet hatte.
Im Schlafzimmer hatte sie sogar einige Termiten entdeckt und zertreten.
Am schlimmsten aber war das Zimmer ihrer Enkeltochter in Mitleidenschaft gezogen worden. Dort hatten sich zahlreiche Spinnen wohnlich eingerichtet und ihre Netze kreuz und quer durch den Raum gespannt, mit Fäden dick wie Gummi.
Die alte Frau hatte sich nicht getraut, das Zimmer zu betreten. Sie war an der Tür stehengeblieben. Die Blicke hatten ihr gereicht, und sie wußte auch, daß diese Spinnweben, die von Tag zu Tag dichter wurden, erste Vorboten für eine Rückkehr ihrer Enkeltochter waren.
Die Zeit war reif.
Zehn Jahre…
Sehr lang, aber nicht lang genug, um ein Versprechen zu vergessen.
Auch andere Vorzeichen deuteten darauf hin. Im Ort waren die Insekten und Spinnen zu einer regelrechten Plage geworden. Bösartig und gemein griffen sie sogar Kinder an, und einige Bewohner hatten Tote zu beklagen. Libellen flogen wie brummende Raketen durch die Dunkelheit und die Dämmerung auf der Suche nach Opfern.
Wer Susan kannte, hatte sie nicht vergessen. Plötzlich war ihr Name wieder in aller Munde. Man erinnerte sich an die Vierzehnjährige, die Käfer, Würmer und anderes Zeug gegessen hatte, ohne sich davor zu ekeln.
Erica Wade wurden Fragen gestellt, die sie nur negativ beantworten konnte. Wenn andere mit ihr sprechen wollten, floh sie vor ihnen in ihr Haus und schloß sich dort ein.
Und so schottete sie sich immer mehr von der Welt ab und hing nur ihren eigenen Gedanken nach.
Die unerwünschten Besucher blieben. Hinzugesellt hatten sich noch Mücken und übergroße Fliegen, die Erica ebenso mit einer Klatsche jagte und tötete wie die Mücken. Aber sie bekam sie nicht aus der Wohnung. Sie hatte sogar den Eindruck, daß es mehr wurden, und sie
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