Jezebel
der Küche drangen die brummenden Geräusche.
Wie eine Melodie, die Angst einjagen konnte, und Erica schüttelte sich, aber sie nahm all ihren Mut zusammen, um die Treppe hoch zum Zimmer der Enkelin zu steigen.
Natürlich quälte sie das schlechte Gewissen, denn auch sie und damals noch Melvin hatten mit dazu beigetragen, Susan aus dem Haus zu jagen. Sie waren später zu streng gewesen, aber damals hatten sie eben keine andere Möglichkeit gesehen.
Dann lag die Treppe hinter ihr. Mein Gott, es geht so schnell. Ericas Herz schlug schneller. Es pumpte das Blut durch die Adern. Hier oben war es ziemlich düster. Schatten hatten sich ausgebreitet, und sie entdeckte auch die Bewegungen darin, hörte das leise Summen der Mücken. Eine setzte sich genau auf ihre Stirn. Bevor sie das Tier vertreiben konnte, hatte es schon zugestochen. Es war Erica egal. Auf einen Stich mehr oder weniger kam es auch nicht an.
Endlich ging sie.
Wenige Meter nur mußte sie zurücklegen, um das Zimmer der Enkelin zu erreichen.
Vor der Tür blieb sie stehen und versuchte, so gut wie möglich ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Auch ein leichter Schwindel war vorhanden, so mußte sie sich gegen die Wand lehnen, um ihn verkraften zu können.
Es ging besser. Die Klinke lockte. Aber Erica traute sich nicht, den Raum einfach zu betreten, obwohl sie aus ihm keine Geräusche hörte. Deshalb handelte sie wie eine fremde Person, als wäre sie ein Zimmermädchen in einem Hotel.
Erica klopfte an. Zweimal pochte sie gegen das Holz. Das Herz schlug jetzt noch schneller. Sollte Susan in ihrem alten Zimmer sein, mußte sie reagieren.
Warten – gespannt sein. Sekunden verstrichen, und Erica wollte zum zweiten Mal klopfen, als sie Susans Stimme hörte.
»Komm nur herein, Großmutter.«
Erica erschrak über die Worte. Sie hatte damit rechnen müssen, es sich sogar gewünscht, doch nun, wo es wirklich soweit war, spürte sie die große Angst.
Trotzdem stieß sie die Tür auf.
Der nächste Schritt brachte sie über die Schwelle, und dann blieb sie sprachlos stehen…
***
Susan war erschienen, zurückgekehrt, aber es war nicht mehr die kleine Susan, die Erica kannte. Zehn Jahre waren eine lange Zeit, die an keinem Menschen spurlos vorübergingen. Menschen?
War diese Person, die inmitten der Spinnennetze hockte, wobei die Spinnen selbst über ihren Körper krabbelten, noch ihre Enkelin Susan?
Beinahe hätte die alte Frau geschrieen. Sie hielt sich im letzten Moment zurück, denn sie wollte sich keine Blöße geben. Mit diesem Bild hatte sie auf keinen Fall gerechnet, es war einfach zu unecht und gleichzeitig zu fremd, um normal sein zu können.
Susan stand vor ihr. Sie war älter geworden, und sie war wirklich zu einer schönen jungen Frau herangewachsen. Das dunkle Haar trug sie kurz. Ein rundes Gesicht mit einem herzförmigen Mund, einer kleinen Nase, leicht schrägstehenden Augen, die von dunklen Pupillen beherrscht wurden.
Wie die Mutter, dachte Erica, wie die Mutter. Aber Susans Mutter hätte sich niemals so angezogen wie ihre Tochter, denn Susan trug nur ein dünnes Kleid, das sogar an manchen Stellen durchsichtig war, so daß die helle Haut durchschimmerte. Ihre Arme und Schultern waren von einem dunkelbraunen, hornähnlichen Schutz bedeckt, der aussah wie der Chitinpanzer eines übergroßen Käfers.
Auf dem Kopf, leicht nach hinten gedrückt, saß eine Mütze oder ein Helm aus dem gleichen Material, und auf seiner Rundung hatte eine fette Spinne ihren Platz gefunden.
Andere liefen um Susan herum. Sie hingen auch in ihren Netzen, in denen sich andere, übergroße Insekten verfangen hatten und zu einer Beute der Spinnen geworden waren.
»Susan«, flüsterte die alte Frau. »Mein Gott, Susan! Kind, was ist nur aus dir geworden?«
»Ich bin nicht mehr Susan.«
»Doch, ich erkenne dich, auch wenn zehn Jahre vergangen sind. Du bist es.«
»Ich bin auch nicht dein Kind.«
»Warum sagst du so etwas?« fragte die alte Frau gequält. »Wenn du wüßtest, was wir gelitten haben, dein Großvater und ich. Aber der ist tot, ich bin allein zurückgeblieben…«
»Ich bin jetzt eine andere Person«, unterbrach Susan ihre Großmutter.
»Und ich heiße auch anders.«
»Wieso?«
»Jezebel. Aus Susan ist Jezebel geworden. Hast du das verstanden, Großmutter?«
Erica hatte es verstanden, aber sie kam mit dieser Antwort überhaupt nicht zurecht. Sie fragte sich, was das alles sollte. Susan, das war ein Name, aber dieser andere, dieser, sie hatte
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