Jim Knopf und die Wilde 13
erleben muß und Lukas
einen kühnen Plan faßt
Als Jim die Stelle wiedergefunden
hatte, wo Molly zurückgeblieben war, dachte er zuerst, er hätte sich geirrt und
es sei gar nicht die richtige Stelle. Da war zwar die kleine Höhle — aber Molly
war nirgends zu sehen! Jims Herz setzte einen Schlag lang aus und begann dann
heftig zu pochen.
„Es muß woanders gewesen sein“, murmelte
er, „bestimmt war es eine andere Stelle. Hier is’ ja alles so voll mit Zacken
und Höhlen, daß man sich leicht täuschen kann.“
Und er ging weiter und suchte, und er
kletterte ein Stückchen die Klippe hinauf, und dann kletterte er ein Stückchen
die Klippe hinunter; aber schließlich mußte er sich eingestehen, daß die erste
Stelle wohl doch die richtige gewesen war.
„Vielleicht is’ Molly in die Höhle
gekrochen“, sagte er zu sich selbst, „sie kann ja nicht einfach weg sein. Sie
war ja ganz fest angebunden. Ich hab bloß nicht richtig geguckt.“
Er kehrte zur ersten Stelle zurück und
krabbelte in die Höhle hinein, bis es nicht mehr weiterging, weil sie zu Ende
war.
Keine Molly! Nicht das allerkleinste
Stückchen von ihr.
„Molly!“ rief Jim leise, und seine Unterlippe
begann zu zittern. Und dann rannte er aus der Höhle hinaus und schrie den Namen
der kleinen Lokomotive, immer wieder, immer wieder, und er biß sich selbst in
die Hand, um nicht einfach laut loszuweinen. Seine Gedanken drehten sich wie
ein rasendes Karussell, und er brauchte eine Weile, ehe er irgendeinen klaren
Entschluß fassen konnte.
„Lukas!“ schoß es ihm plötzlich durch
den Kopf. „Ich muß sofort Lukas rufen.“
Keuchend vor Eile und Anstrengung
kletterte er auf die höchste Zinne der Klippe hinauf und warf sich am Rand des
Schachtes auf den Boden nieder. Tief, tief unten sah er den Lichtkegel von
Lukas’ Taschenlampe. Jim legte beide Hände vor den Mund und schrie, so laut er
konnte:
„Lukas! Lukas! Komm rauf! Schnell!
Molly is’ weg! Bitte, Lukas!“ Aber keine Antwort kam von unten. Wahrscheinlich
verschluckten das Sausen des Windes, der sich heulend in der Schachtöffnung
fing, und das Donnern der aufgepeitschten Wogen, die gegen die Klippen
brandeten, jeden anderen Ton.
„Ich muß ihm nach!“ dachte Jim und
begann die Wendeltreppe hinunterzusteigen. Aber schon nach wenigen Metern mußte
er den Versuch wieder aufgeben, denn er hatte ja kein Licht bei sich, und in
der Dunkelheit hätte der Abstieg über die glitschigen Stufen Stunden dauern
können. Und bis dahin würde Lukas sowieso schon längst wieder nach oben
gekommen sein. Es blieb also nichts anderes übrig, als zu warten. Und das war
beinahe unerträglich, wie man sich vorstellen kann.
Jim kletterte noch einmal zu der Stelle
hinunter, wo Molly gestanden hatte, und suchte die ganze Umgebung ab. Das
einzige, was er schließlich fand, war ein kleines, abgerissenes Endchen der
perlenbestickten Walroßleine, mit der sie festgebunden gewesen war. Mit diesem
jammervollen Andenken in der Hand kehrte er zu Emma, Herrn Tur Tur und der
kleinen Seejungfrau zurück und ließ sich schweigend bei ihnen nieder. Sein
Gesicht war trotz seiner schwarzen Hautfarbe ganz grau geworden.
„Darf ich fragen“, sagte Herr Tur Tur,
„was Ihnen widerfahren ist? — Sollte etwa mit Ihrer kleinen Lokomotive...?“ Der
Scheinriese sprach nicht zu Ende, denn Jim warf ihm einen so verstörten und
trostlosen Blick zu, daß er seine Frage nicht mehr auszusprechen wagte. Auch
die kleine Meerprinzessin schwieg bestürzt.
Jim starrte eine ganze Weile mit leeren
Augen auf das Meer hinaus und biß sich auf die Unterlippe, damit sie nicht so
zitterte. Dann sagte er stockend und tonlos:
„Ja — Molly — sie is’ — ich weiß nicht
— ich glaub’, sie is’ weg.“ Dann schwiegen alle drei wieder eine ganze Weile.
Der Wind heulte, und die Wellen brachen sich donnernd an den eisernen Felsen.
„Vielleicht hat sie jemand geraubt“,
murmelte Jim schließlich.
Die kleine Seejungfrau schüttelte den
Kopf.
„Hierher kommt nie jemand. Nicht mal
Meerleute. Und die hätten es auch ganz bestimmt nicht getan.“
„Wir wollen einmal überlegen“, sagte
der Scheinriese. „Könnte es denn nicht sein, daß sie sich losgerissen hat und
ins Wasser gefallen und untergegangen ist?“
Jim blickte auf. Ein kleiner
Hoffnungsschimmer trat in seine Augen.
„Vielleicht“, meinte er, „obwohl — sie
war ganz fest angebunden. Und kalfatert war sie auch.“
„Ich werde sofort einmal
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