Jimmy, Jimmy
glaube, wir sollten Sean noch nichts sagen«, sagt Mam. »Er ist so labil, wer weiß, wie er darauf reagieren würde. Vor allem nach dem, was heute passiert ist.«
Sie nimmt meine Hand. Ihre Finger sind knochig und rau. Sie weiß offenbar nicht, wie fest ihre Hände zudrücken können. Oder wie schmerzhaft.
»Ich weiß, dass es für dich auch schwer ist, Eala. Aber ich weiß auch, dass ich mich auf dich verlassen kann, dass du vernünftig und stark bist.«
Vielleicht bin ich das. Aber vielleicht auch nicht. Was immer an Klarheit und Vernunft in mir steckt, jetzt gerade verflüchtigt es sich rasend schnell. Mam lässt meine Hand los. Vielleicht ist es das Neonlicht, aber unsere Haut – die meiner Handrücken und die ihres Gesichts – ist fleckig, als hätten wir uns tagelang nicht gewaschen.
»Wegen dem ganzen Streit mit den Versicherungen werde ich wieder arbeiten müssen, Eala. Ich hab keine andere Wahl, das verstehst du doch?«
»Und wer kümmert sich um Dad?«
»Wir finden jemanden, der tagsüber für ein paar Stunden kommt. Für den Anfang arbeite ich nur drei Tage die Woche, das wird es leichter machen.«
Genau da kommt Dad den Flur mit den Behandlungsräumen entlang, eine rothaarige Krankenschwester an der Seite, die wie ein Fünfzehnjährige aussieht, allerdings eine müde Fünfzehnjährige, die schon so viel gesehen hat, dasssie nichts mehr aus der Ruhe bringt. Dads rechter Arm ist hochgebunden. Mit der freien linken Hand zeigt er auf die junge Schwester.
»Sie hat mir eine Spritze in den Hintern verpasst«, ruft er uns von Weitem zu. »Tat ganz schön weh.«
Eines der Großmäuler bricht in schallendes Gelächter aus, und Dad senkt den Kopf. Es ist, als stünde er auf der Bühne und hätte plötzlich die Nerven verloren. Wir gehen zu ihm. Er hat zwei Wunden, die genäht werden mussten. Sieben Stiche sind es insgesamt. Und sie haben ihm eine Tetanusspritze gegeben, was ihn so beschäftigt, dass er auf dem ganzen Weg ins Freie über nichts anderes reden will. Ich stelle mir vor, wie ich noch mal hineingehe und das Zimmer 310 suche, wo Brian liegt. Aber das ist alles, was ich tue: Ich stelle es mir vor.
Draußen, unter den Rauchern, die im Eingangsbereich herumstehen, finden wir Sean. Er telefoniert mit dem Handy. Als er uns sieht, bricht er das Gespräch ab. Ich spüre, dass er mir was zu erzählen hat, und lasse Mam und Dad ein paar Schritte vorgehen. Sean holt mich ein.
»Was ist?«, frage ich.
Er schaut nervös in alle Richtungen und meidet meinen Blick. Er hat mir hundertprozentig was zu erzählen, aber jetzt hat er Bedenken. Warum bin ich mir so sicher, dass es eine neue schlechte Nachricht über Dad ist?
»Also?«
»Nichts«, sagt er. »Nichts …«
Noch bevor er weiterspricht, weiß ich, dass er lügen wird.
»Ich war …«
Er stockt wieder. Er schaut hinunter auf das Handy inseiner Hand und scheint eine Idee zu haben, wie er die Situation retten kann.
»Ich hab mit Brian gesprochen.«
Und prompt bewegen sich meine Gedanken in eine neue Richtung. Angie flüstert mir ins Ohr: Ich wette, Brian will mit dir gehen, Eala. Hör auf, Angie! Mein Herz rast so schon schnell genug.
»Er hatte einen Riesenzoff mit seinem Alten, gerade eben, im Krankenzimmer«, erzählt Sean. »Er geht nicht aufs College. Hat Starsky erzählt, dass er’s nie vorhatte.«
»Und was macht er dann?«, frage ich und bin lächerlicherweise enttäuscht.
»Er will Zimmermann werden. Cool, was?«
»Wer glaubt er, wer er ist?«, sage ich. »Jesus, oder was?«
Ich sehe Dad im fahlgelben Licht des Krankenhausparkplatzes hinter Mam herlaufen. Ein großer, schlaffer, gebeugter Mann, der alle paar Schritte den linken Fuß nachzieht, an seiner übergroßen Armbanduhr herumspielt und sich ständig nach allen Seiten umschaut, als wollte er sichergehen, dass ihm niemand folgt. Der Rücken seines Real-Madrid-Trikots ist braun und grün gefleckt von Gartenerde und Gras. Die Nummer 6 ist noch gut zu erkennen, aber der Name darüber – Zidane – ist kaum zu lesen.
Wer bist du, Dad? Wer bist du, Jimmy?
13
Heute Nacht werde ich nicht schlafen. Morgen Nachmittag ist die Gerichtsverhandlung. Mam sagt, ich bräuchte nicht zur Schule zu gehen, aber im Augenblick bin ich überall lieber als zu Hause. Ich habe das Bild von Clem Healys Sturz so oft zurückgespult, dass ich es schon wie mit einer Fernsehkamera aufgenommen sehe. Eine Schwarz-Weiß-Version der Wirklichkeit, die jedes Mal ein bisschen körniger wird und auf unheimliche
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