Jimmy, Jimmy
könnte, und kein Mensch würde es merken. Es war ein tieftrauriger Gedanke. Es war, als zählte Dad da draußen in der Welt überhaupt nicht mehr. Ich suchte die CD und die DVD und war mir nicht mal mehr sicher, ob ich es wirklich damit versuchen würde. Aber am nächsten Tag tat ich es. Es war ein Sonntag, und ich war lange allein mit ihm.
Beim Frühstück war er vollkommen weggetreten. Unendlich langsam bewegte sich die Hand mit der Teetasse, teilnahmslos schaufelte er sich Müsli in den Mund, die Augen starrten ins Leere. Ich wollte ihn in den Arm nehmen, das Leben in ihn zurückdrücken, ihm sagen, dass alles gut wird, und als wir bei ihm unten waren, tat ich es. Es war seit Langem das erste Mal. Ich hielt ihn und redete ihm gut zu, aber ich erreichte damit nur, dass es ihm peinlich war und ihn verwirrte.
»Aber alles ist doch super«, sagte er. »Oder? Ich bin doch kein Idiot mehr.«
»Das warst du nie«, sagte ich.
Es brach mir das Herz. Ich ließ ihn los und legte die Undertones -CD auf, nicht zu laut, falls oben jemand kam. »Jimmy, Jimmy.«
»Ich mag das nicht«, sagte er, noch bevor der Gesang einsetzte. Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Bett, die Füße noch auf dem Boden.
»Wart’s doch ab«, sagte ich. »Das Lied heißt ›Jimmy, Jimmy‹. Ich wette, es gefällt dir.«
»Warum schreien sie so?«
»Es ist Punk. Joie-de-vivre -Punk.«
Er gähnte. »You’ve Got My Number« war noch lauter und schneller, aber er nickte trotzdem ein.
Später am Morgen, als die Charlie-DVD ungefähr fünf Minuten lief, wurde er richtig bockig.
»Das ist Kinderkram. Du denkst doch, ich bin ein Idiot.«
Nachdem die Musik und der Film die Nebel in seinem Kopf nicht zerreißen konnten, versuchte ich es mit Vorlesen. Das mochte er. Er lag auf dem Bett und schaute aus dem Fenster. Ich fragte mich, ob er überhaupt was von der Geschichte mitbekam. Jedenfalls erkannte er das Buch nicht wieder, obwohl er es Sean und mir vorgelesen und auch später immer wieder aus dem Regal gezogen hatte.
Das Buch heißt »Die Koralleninsel« und ist von R. M. Ballantyne, ein uralter Schmöker aus dem 19. Jahrhundert. Es war das erste Buch, das Dad selbst besessen hat. Auf seinem Regal im Arbeitszimmer stehen vierzehn verschiedene Ausgaben davon. Er hat uns oft erzählt, wie er darin die Beschreibung eines Korallenriffs las und zum ersten Mal erlebte, dass man Bilder vor sich sehen kann, obwohl sie nur aus Wörtern gemalt sind. Als ich beim Vorlesen an die Stelle kam, hoffte ich für einen Augenblick, dass ein Stück Erinnerung in ihm aufblitzte. Ich hätte genauso gut aus dem Telefonbuch vorlesen können. Aber ich machte weiter, jeden Abend ein paar Kapitel. Bis die Ice Queen auftauchte.
Nachdem sie den ersten Tag da gewesen war, wollte ich weiterlesen.
»Marta hat schon«, sagte er.
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
»Wir können ein neues anfangen«, sagte ich.
»Marta fängt morgen ein neues an. Sie sagt, es ist gut für ihr Englisch.«
Mein Gehirn stand still. Mein Herz auch. Dabei ist es seither geblieben.
Als neulich Jill ihr Schweigen mir gegenüber brach und eine SMS schrieb, dass sie für ein paar Tage nicht in die Schule kommen könne, weil zu Hause mal wieder die große Krise herrsche, brachte ich’s nicht über mich zu antworten.
Gestern, als Miss O’Neill mich fragte, ob ich zum Vorsingen für die »West Side Story« käme, antwortete ich mit einem vagen Kopfnicken, das genauso gut ja wie nein oder vielleicht bedeuten konnte.
Und heute Nachmittag, als ich auf der Bühne der Aula ›Tonight‹ sang, war kein Funken Musik in mir. Außerdem war die Akustik so daneben, dass es sich anhörte, als würde ich mit mehr als einer Stimme singen.
»Ein bisschen mehr Artikulation, Eala!«, sagte Miss O’Neill, und es war mir egal.
14
Keine fünf Minuten mehr, dann klingelt es zur großen Pause. Mrs Doran ist zu jung für graue Haare und eigentlich zu sexy, um etwas so Langweiliges wie Wirtschaft zu unterrichten. Aber wenigstens schläft man bei ihr nicht ein – sie kann dir jederzeit und wie aus dem Nichts eine Frage stellen. Heute Morgen sitze ich allerdings aus einem anderen Grund vorne auf der Stuhlkante. Und der Grund ist nicht die Gerichtsverhandlung. Jill ist in der Schule zurück.
Sie war erst nicht da und kam dann, als Mrs Dorans Stunde gerade angefangen hatte. Ihr matt glänzendes Makeup kann die Schatten unter ihren Augen nicht überdecken. Sie sollte mir leidtun. Sie tut mir nicht leid. Ich sehe
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