Jimmy, Jimmy
zurückgeschrieben: VERGISS ES! Dabei war ich nach mehreren SMS, die er mir in den Tagen nach unserem Spaziergang zum Fluss geschrieben hatte, sicher gewesen, dass er mich treffen wollte. HOFFENTLICH IST DIE SACHE MIT SEAN IN ORDNUNG oder MELDE DICH, WENN DU ZEIT HAST! BIST DU OKAY? – solche Sachen. Ich hatte nicht geantwortet, aber die SMS nicht gelöscht. Jetzt gerade lösche ich sie eine nach der anderen, und es klingt wahrscheinlich verrückt, aber das Handy kommt mir jedes Mal ein bisschen leichter vor.
»Na, Eala?«
Er ist so plötzlich aufgetaucht, dass mir fast das Handy aus der Hand gefallen wäre. Es ist nur nicht ganz der Brian, den ich kenne. Sein Kopf ist rasiert, und ich bin mir nicht sicher, ob ich es mag.
»Alles paletti.« Wenn ich nicht aufpasse, rutscht mir das manchmal einfach so heraus.
»Mein Weihnachtshaarschnitt«, sagt er, woraus ich schließe, dass ich meine Zweifel doch ein bisschen zu deutlich gezeigt habe.
»Es sieht anders aus«, sage ich.
»Mit anderen Worten, es gefällt dir nicht.«
»Haarscharf an der Wahrheit vorbei«, sage ich, was für meine Verhältnisse ganz schön schlagfertig ist. Er schaut lächelnd über den hell erleuchteten Platz. Man kann sehen, dass ihm der Weihnachtsrummel gefällt.
»Ich würde mir gern die Krippe in der Kathedrale anschauen«, sagt er. »Hast du Lust?«
»Das soll wohl ein Witz sein. Du bist kein religiöser Fanatiker, oder?«
»Natürlich nicht. Aber mein Großvater hat die ganzenHolzarbeiten für die Krippe gemacht, gleich als wir von Cork hierhergezogen waren. Er war ein verdammt guter Schreiner.«
»Na dann«, sage ich und spüre, wie seine Hand kurz meinen Rücken berührt, bevor wir uns gegen den Strom der Weihnachtsbummler in Richtung Kathedrale aufmachen. Ein Teil von mir denkt: Was glaubt er, wer er ist, dass er mich so berührt? , während sich der andere, der Angie-Teil, beschwert: Warum hält er mich nicht gleich richtig fest? Zum Glück gibt es um uns herum so viel Lärm, dass unser Schweigen auch ganz normal sein könnte. Angie warnt mich trotzdem: Verjag ihn jetzt bloß nicht mit deiner Unglücksgeschichte, Eala!
Wir steigen die Treppe der Kathedrale hinauf. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt hier war. Vorne im großen Kirchenschiff bewegt sich eine Schlange auf die Krippe hinter dem Altar zu, hauptsächlich junge Paare mit Kindern, glückliche Familien, die mir meine eigene Einsamkeit schmerzlich bewusst machen. Wir stellen uns ans Ende der Schlange. Vor uns steht ein kleines blondes Mädchen etwa in Toms Alter. Sie schaut immer wieder mit dem allersüßesten Lächeln durch die Beine ihres Vaters zu mir zurück. Ich möchte gern, aber ich kann mich nicht zu einem Lächeln aufraffen, was die Kleine erst neugierig macht und dann traurig werden lässt. Prompt fühle ich mich schlecht, weil ich ihr die Laune vermiest habe.
Wir erreichen die lebensgroße Krippe, und Brian schaut den Leuten vor uns über die Schulter. Auch mir gelingt es, hin und wieder einen Blick auf die grell bemalten Figuren zu erhaschen. Ich sehe Josef und Maria, ein paar Schafe, einen Esel. Dann führt mich Brian ins Innere, und wiederspüre ich seine Hand, diesmal auf meiner Schulter. Ich hatte damit gerechnet, das Jesuskind mit ausgestreckten Armen in der Krippe liegen zu sehen, so als würde es erwarten, hochgenommen und getröstet zu werden. Aber das kleine geflochtene Körbchen ist leer.
»Das Jesuskind ist gar nicht da«, rutscht es mir heraus.
»Es ist noch nicht geboren«, sagt Brian, und ich habe das komische Gefühl eines Déjà-vu. »Sie legen es erst am Weihnachtsmorgen hinein.«
Und jetzt fällt es mir wieder ein: Ich habe dieselbe Frage schon einmal gestellt und genau dieselbe Antwort erhalten. Ich weiß auch noch, wann: im Jahr des Dreirads. Und es ist keine schöne Erinnerung.
Es war Heiligabend, und Dad wollte mit Martin und den anderen Fußballern noch auf einen Drink in die Kneipe. Mit Mam war ausgemacht, dass wir uns alle an der Krippe treffen, und ich war doppelt enttäuscht, als er nicht auftauchte: kein Jesuskind in der Krippe und dann auch kein Dad. Dass Mam außer sich war, gehört zu dem Teil der Geschichte, bei dem ich mir hundertprozentig sicher bin, dass es sich genau so abgespielt hat. Beim Rest habe ich leise Zweifel, ob ich mir nicht Dinge einbilde, weil ich weiß, was ich inzwischen weiß. Beziehungsweise weil ich weiß, was ich alles nicht weiß.
Jedenfalls waren wir nach meiner Erinnerung früh wieder
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