Jinx und der magische Urwald (German Edition)
zog die Socken wieder an. Er stieg in seine Stiefel und band sie mit Doppelknoten zu.
»Der Schrecken ist hier«, sagte er schließlich.
»Oh. Dann gehen wir lieber weiter, oder?«
Ja, nur dass der Schrecken uns immer begleiten wird.
»Wie wär’s, wenn ich die Axt mal eine Weile trage?«
»Gern, wenn du willst.« Reven gab sie ihm. Er schaute ihn offen und freundlich an.
Sie gingen weiter. Jinx dachte daran, dass er die Angst der Bäume schon Tage zuvor, als er Simons Haus verließ, gespürt hatte. Sogar schon Tage bevor er in Samara war. Wahrscheinlich genau zu der Zeit, als Reven den Urwald betreten hatte.
Jetzt wünschte Jinx sich umso mehr, dass er seine magische Kraft noch hätte. Wenn er die Farbe und Form von Revens Gedanken sehen könnte, dann hätte er eine Ahnung, was für eine Art von Gefahr er darstellte … und worin sein Fluch bestand.
»Könnte dein Fluch dich wohl dazu bringen, jemandem wehzutun?«, fragte Jinx nach einer Weile.
»Haben die Bäume dir das erzählt?«
»Nein.« Wenn er nur wüsste, was Reven dachte!
»Du glaubst, dieser Schrecken hat irgendwas mit … mit meinem kleinen Problem zu tun, stimmt’s?«
Er kann noch nicht mal »mein Fluch« sagen
, dachte Jinx. Er ging ein wenig auf Abstand und nickte vorsichtig.
»So ist es aber nicht«, sagte Reven.
Er konnte es ebenso gut aussprechen. Immerhin hatte
er
die Axt, nicht Reven. »Die Bäume haben Angst vor dir.«
»Ja, aber warum hast
du
Angst vor mir?«
»Hab ich doch gar nicht«, sagte Jinx.
Reven schaute auf die Axt über Jinx’ Schulter und zog eine Augenbraue hoch. »Jedenfalls brauchen die Bäume sich keine Sorgen zu machen. Ich tue nur, was du sagst.«
Sie wanderten den ganzen Tag in Richtung Norden und folgten Donna Glimmers Wegbeschreibung. Jinx behielt Reven im Auge, die Axt immer fest im Griff.
Reven redete und redete. Er erzählte Geschichten über das Leben am Hof von König Rufus, über die Tochter des Königs, die sehr schön war, und Revens Stiefmutter, die sehr weise war. Er merkte, dass Jinx ihn argwöhnisch beobachtete, aber er verlor seine gute Laune nicht.
Jinx fiel es schwer, zu glauben, dass Reven der Schrecken war. Er war freundlich, konnte sich gewählt ausdrücken, er sagte immer das Richtige und konnte die Menschen beruhigen. Wahrscheinlich lag das daran, dass er an einem Königshof aufgewachsen war und sich in Gesellschaft zu benehmen wusste.
Jinx war im Haus eines Zauberers aufgewachsen und hatte gerade erst erfahren, dass er
noch nicht einmal freundlich
war. Er konnte nicht umhin, Reven zu beneiden.
»Wenigstens bin ich kein Räuber«, sagte er, ohne zu merken, dass er laut gesprochen hatte.
»Nur weil du nicht dazu getrieben worden bist«, sagte Reven fröhlich. »Noch nicht. Was sind das für Spuren?«
»Bär«, sagte Jinx.
»Werbär oder echter Bär?«
»Beides möglich«, sagte Jinx.
»Ich hab noch nie zuvor von Werbären gehört«, sagte Reven. »Nein, nur von Werwölfen. Gibt es noch mehr Wertiere? Werstreifenhörnchen, zum Beispiel?«
»Sehr witzig«, sagte Jinx.
Reven lachte.
»Da ist ein Baumhaus«, sagte Jinx. »Lass uns hier Rast machen.«
»Aber es ist noch nicht mal richtig dunkel.«
»Das geht aber schnell. Und irgendwo hier in der Nähe ist ein Bär.«
Von dem Baumhaus hing eine Strickleiter herab. Jinx kletterte als Erster hinauf. Reven reichte ihm die Axt und kletterte hinterher. Währenddessen versteckte Jinx die Axt auf dem flachen Dach, außer Revens Sichtweite.
Sie saßen auf dem Rand des Baumhauses und schauten zu, wie sich die Nacht über den Wald senkte. Im Unterholz hörte man Tiere rascheln, und Vögel suchten zwitschernd ihr Nachtlager auf. Jinx hatte nicht vor zu schlafen. Er überlegte, ob er warten sollte, bis Reven eingeschlafen war, um sich dann leise davonzustehlen.
»Im Wald sieht man nie, wie die Sonne auf- oder untergeht, was?«, sagte Reven.
»Doch, klar, jetzt gerade geht die Sonne unter«, sagte Jinx.
»Ich meine, man sieht sie nicht am Rand der Welt untertauchen.«
»Tut sie das?«
»Hier gibt es keinen Horizont«, sagte Reven. »Das war mir noch gar nicht aufgefallen.«
»Die Linie, wo Himmel und Erde sich treffen? Doch, die hab ich schon einmal gesehen!« Als er aus seinem Körper und immer höher geschwebt war, in der Nacht, als Simon ihn verzaubert hatte. »Ich würde gern hingehen und den Himmel berühren.«
Reven lachte. »Das ist unmöglich. Wenn du dort ankämst, wäre der Horizont woanders, genauso weit weg.«
Jinx
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