Joanna Bourne
Grey. Ihr seid ein Schatten und ein im Wind flatterndes Tuch.«
»Ich bin Robert Greyson Montclaire Fordham. Alles, was ich dir erzählt habe, entspricht der Wahrheit – meine Eltern, meine Brüder, das Haus in Somerset, der Forellenteich, das Pony, dem ich Tricks beigebracht habe. Sechsundzwanzig Jahre lang war ich Robert Fordham, ehe es Grey überhaupt gab.«
»Du hast mich angelogen . Hinter deinen Backenzähnen kommen nichts als Lügen hervor.«
Sein Lächeln brachte genau diese Zähne zum Vorschein. »Dann passen wir ja gut zusammen. Hast du immer noch Angst?«
»Natürlich habe ich noch Angst. Ich wäre ein Idiot, wenn nicht.«
»Du hast das Schlimmste hinter dir. Ich würde dir kein Haar krümmen, und das weißt du. Komm.« Er nahm sie bei der Hand und zog sie in einen Raum, der – sieh an – ein Bad war. Er strahlte vor Sauberkeit und Luxus und überraschte sie weitaus mehr, als ein Verlies es hätte tun können.
»Das ist ein Bad«, stellte sie schlauerweise fest.
»So ist es. Ich hoffe, es trägt zu deiner endgültigen Beruhigung bei.«
»Ich will mich nicht beruhigen, ich will fliehen.«
Er musste lachen. Er hatte sie getäuscht, in dieses Haus gelockt, gefangen genommen, und jetzt lachte er sie auch noch aus. Es bestand kein Zweifel daran, dass er so kaltherzig wie ein Uhrwerk war.
Sie fand einen kleinen, vertäfelten Raum vor. Die beiden Bogenfenster waren vergittert. Durch das Milchglas konnte sie zwar nicht nach draußen sehen, aber dem Stand der Sonne nach zu urteilen, lag der Raum auf der Südseite des Hauses. Auf den schwarzen und weißen Fliesen lag ein roter Vorleger aus der Türkei. In dem in die Wand eingelassenen Kamin war gerade erst ein Feuer entfacht worden. Neben dem Feuer stand ein Spiegel, der alles reflektierte.
Die Badewanne war ein riesiger, ovaler Behälter mit hohen polierten Mahagoniwänden. Aus der Zimmerwand kamen eigenartige Leitungen mit Hähnen darauf.
»Das sieht nach einem teuren Bordell aus«, kannte sie sich ein wenig aus, »außer diesem da«, sie deutete auf die Leitungen, »was ich mal in einer Brauerei in München gesehen habe. Was machst du damit?«
»Das ist eine Badewanne. Was glaubst du, was ich damit mache – Gefangene in kochendem Wasser schmoren?« Er stapfte zu den Wasserhähnen und öffnete sie. Aus ihnen kam logischerweise Wasser, obwohl sie nicht erkennen konnte, wieso es heiß war. »Mein offizieller Folterknecht hat mittwochs frei, um an Kleintieren üben zu können. Du wirst also mit mir vorliebnehmen müssen. Falls du dich wegen des Wassers wunderst – auf der anderen Seite der Wand befinden sich der Küchenherd und ein Warmwasserbehälter. Ich habe lieber ein raffiniertes Entwässerungssystem als Diener, die mit Kübeln herumlaufen.
Diener konnten bestochen werden. Man hatte mal wieder an alles gedacht . »Ich verstehe.«
»Hab ich mir gedacht. In einer Minute ist sie voll. Du kannst dich schon mal ausziehen.« Er trommelte mit den Fingern, erfüllt von hungriger Anspannung. In ihrem Innern antwortete eine ebenfalls wachsende Spannung.
»Glaubst du, dass das so einfach zwischen uns funktioniert? Dass ich mich ausziehe, wenn es dir beliebt?«
»Ich glaube, dass es verdammt kompliziert zwischen uns läuft. So war es von Anfang an.« Er drehte die Hähne zu und testete die Wassertemperatur. »Bisher war gar nichts leicht, und wenn es noch so banal war. Warum sollte es diesmal anders sein?« Er kam zu ihr und griff so vorsichtig nach ihr, als ob sie sehr zerbrechlich wäre. Dann drehte er sie um, sodass sie in den Spiegel schauen konnte. »Wir gehen jetzt Schritt für Schritt vor.« Er legte seine Hände an den Schal um ihren Hals, wickelte ihn ab und ließ ihn zu Boden fallen. »Das war Schritt eins.«
»Warum machst du das? Warum?«
»Dich ausziehen? Verzweiflung. Wahnsinn. Wenn du mich genau anschaust, wirst du erkennen, dass ich kurz davor stehe, wie ein Vulkan auszubrechen.« Seine Stimme klang gepresst und unbändig, ein tiefes Grollen mit einem Hauch Unsicherheit darin. »Nun ziehen wir dir dein Kleid aus. Das ist Schritt zwei. Da sind viele Knoten zu lösen, nicht wahr? Unterbrich mich, wenn du wirklich etwas dagegen hast.«
»Ich weiß nicht einmal, was du mit mir vorhast.«
»Das bekommst du heraus, schlau wie du bist.«
»Ich meine nicht jetzt, hier. Ich meine … « Sie beging den Fehler, in den Spiegel zu schauen. »Ich meine … « Der Spiegel zeigte ein zerlumptes Gassenkind mit geteilten Lippen und weitem, starrem
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