Joanna Bourne
Innenseite des Aktendeckels waren einige zusammenfassende Bemerkungen vermerkt. Die erste Zeile sagte ihm alles. Adrian las sie kopfüber. Er zog den Atem scharf ein. »Großer Gott.« Doyle, der über seiner Schulter lehnte, erfasste es mit einem einzigen Blick und fluchte.
Er las weiter. Kein Wunder, dass dies ein Geheimnis war. Gar kein Wunder.
Doyle tat einen schwerfälligen Schritt auf Galba zu. »Das hätte man mir sagen müssen.«
»Niemand wurde eingeweiht.«
»Die hatten eine Operation in Wien. In meinem Revier. Verdammt, man hätte mich informieren müssen.«
Galba erwiderte: »Du kennst die mit dem Einzelstatus verbundenen Privilegien. Will, du hast diese Regeln gemacht .«
»Aber doch nicht, damit sie gegen mich angewandt werden. Ich hätte beinahe … Gütiger Gott, warum hat man mir nichts gesagt? Ein Wort hätte genügt. Ein Wort.«
»Dein Vorgehen und eure Feindschaft war Teil ihres Schutzes.«
Anniques Akte. Grey blätterte Seite für Seite um und spürte, wie sich Ärger in seiner Brust breitmachte. Dies wird ihr das Herz brechen . »Sie hat keine Ahnung. Warum zum Teufel weiß sie nichts davon?«
»Ich will meine Mitschuld gar nicht leugnen.« Mit grimmiger Miene schloss Galba die Schublade wieder ab und verstaute den Schlüssel in seiner Tasche. »Ich war zwar dagegen, habe es aber abgesegnet – aus einem einfachen Grund: Ihre Mutter wollte nicht, dass sie etwas davon erfährt.«
Unglaublich . »In der Zeit, als sie noch ein Kind war, kann ich es ja verstehen. Doch als sie erwachsen war – wie hatte sie ihr nichts davon erzählen können?«
»Es ist nicht zu entschuldigen. Sie hat es Annique einfach nie erzählt. Nun müssen wir es tun.«
»Sie soll alles erfahren. Jede verfluchte Einzelheit.« Er schlug auf die Akte. »Wir geben ihr das hier. Die ganze Akte. Jedes einzelne Wort. Sie hat das Recht, alles zu erfahren.«
»Ja, das ist ihr gutes Recht.« Galba sank schwerfällig in den Ohrensessel beim Feuer. »Ich wusste, dass es eines Tages so kommen würde. Ich bedaure sie zutiefst, aber ich kann diesen Kelch nicht an ihr vorübergehen lassen.«
»Morgen.« Nicht heute Abend. Lasst mich ihr noch eine Nacht geben, ehe ich ihr das antun muss.
Adrian blätterte wütend die zweite Mappe durch, Seite für Seite. »Zwanzig Jahre voller Lügen. Wir haben dir noch nicht einmal den kleinsten Stofffetzen gelassen, um dich vor dem Sturm zu schützen, stimmt’s, ma pauvre ?«
»Es war falsch.« Doyle rieb sich den Nacken. »Mir ist egal, wie wertvoll sie für uns war. Es war einfach falsch. Und wir haben’s trotzdem getan.«
Maggie kannte sich mit Geheimdienstakten nicht aus. Sie brauchte länger, um die Anmerkungen zu lesen und alles zu durchschauen. »Ich fasse es nicht. Wie konnte eine Frau ihrem Kind so etwas antun? Standen die beiden sich nicht nahe, Annique und ihre Mutter?«
»Sehr nahe«, sagte Doyle.
»Das wird sie furchtbar schwer treffen. Wo ihre Mutter doch erst seit Kurzem tot ist … «
»Ich weiß, Maggie, Liebes. Ist so schon schlimm genug, was wir mit dem Mädchen machen. Und jetzt treten wir auch noch kräftig nach.«
»Wir werden ihr das nicht einfach vor die Füße werfen und ›Überraschung!‹ rufen. Wir gehen behutsam vor … « Adrian wirkte ausnahmsweise einmal unsicher. »Wir werden … wir werden, ja, was nur? Wie will man jemandem so etwas wie das hier beibringen?«
»Sie wird es nicht glauben«, ahnte Maggie. »Bevor man sie überhaupt damit aus der Fassung bringen kann, muss sie erst einmal von der Wahrheit überzeugt werden.«
»Den Beweis hat sie bereits im Kopf«, erklärte Doyle. »Ihrer Mutter muss in all den Jahren doch hin und wieder mal was rausgerutscht sein.«
Und genau das würde Annique in dem Moment, wo man es ihr sagte, wieder einfallen. Dann würde sie nachts wach liegen und sich an jede einzelne Lüge erinnern.
Und er musste sich entscheiden, wie er es ihr beibringen sollte. »Maggie hat recht. Wir müssen sie überzeugen, dass es wahr ist.« Er nahm die Akte, in die Adrian schaute, zog ein einzelnes Blatt heraus und strich es glatt, damit es alle lesen konnten. »Hier. Wir fangen vorne an. Morgen nehmen wir sie nach St. Odran’s mit und zeigen ihr das entsprechende Original in den Büchern des Pfarrbezirks. Können wir das riskieren, solange Leblanc da draußen herumläuft?«
Nach einem kurzen Zögern nickte Doyle. »Das Risiko ist gering. Und wir haben genug Leute, um sie so lange zu schützen.«
»Gut. Wir zeigen ihr die
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