Joanna Bourne
Bretonin. Wartet eine Minute.« Zweige knisterten, als er im Unterholz verschwand.
Sie ließ die Lichtung auf sich wirken, wie sie es immer an neuen Orten tat. Die Sonne wärmte ihre Haut. Der Fluss war nicht so nah, als dass seine Kälte und Feuchtigkeit sie hätten erfrischen können, doch sein Rauschen war laut und beruhigend. Die Kutsche hinter ihr versetzte ihr einen Schubs, als Doyle das zweite Pferd ausspannte. Laub raschelte unter den Hufen der Pferde, als er sie beide zum Wasser führte. Baumpollen flogen umher, und in der Luft hing noch der Geruch von Holzkohle, Tabak und der Pomade der Frauen. Es war alles so vertraut. Dieses Lager war wie die in ihrer Kindheit. Ein Zufluchtsort der Roma.
Damals, bei den Kalderascha, hatte sie noch ein einfacheres Leben geführt. Wenn Maman nicht gekommen und sie wieder mitgenommen hätte, würde sie vielleicht noch immer bei ihnen leben. Dann hätte sie mittlerweile womöglich ein schwarzhaariges Baby zu stillen und wäre bei einem stolzen jungen Ehemann anstelle eines Entführers, der sie gerade zu einer schwierigen und unangenehmen Befragung nach London schaffte.
Grey kam auf sie zu. »Nehmt das hier.« Er drückte ihr einen recht stabilen Stock in die Hand. Er kam ihr wie eine Art Kampfstab vor, obwohl sie nie einen in der Hand gehalten hatte, da solche Waffen nicht gerade ins alltägliche Leben passten. Ihr Vater hatte ihr aber die Geschichten von Robin Hood erzählt. Dieser Stock war genau wie der, den Little John dem Sheriff von Nottingham über den Schädel zu ziehen pflegte … natürlich an ihre Größe angepasst.
»Der ist sehr gut. Danke.« Möglicherweise würde sie Grey damit irgendwann eins überbraten. »Werdet Ihr Adrian die Kugel entfernen?«
»Deshalb sind wir hier.« Seine Stimme verriet seine innere Anspannung.
»Verstehe.« Sie konnte es nicht lassen, seine Unruhe mit ihren nächsten Worten noch zu steigern. »Dann müsst Ihr viel Erfahrung damit haben, vielleicht noch aus Eurer Zeit bei der Armee?«
»Ganz und gar nicht. Ich gehe auspacken. Nutzt das nicht aus, um Euch davonzustehlen.«
Er war nicht begeistert, diese Operation vornehmen zu müssen, sondern schrecklich besorgt. Sie konnte es sogar am Klang seiner Schritte erkennen, während er zwischen Kutsche und der Mitte der Lichtung hin und her ging, um Sachen zu holen. Hier würde er arbeiten, hier würde Doyle ein Feuer entfachen.
Sie hatte sich noch nicht entschieden. Mithilfe ihres Stocks tappte sie eine Weile umher, fand die alten Feuerstellen und lernte, wie die Wagen auf diesem Platz gestanden hatten. Sie spürte den Reichtum dieses Lagers. In den Blumenwiesen hinter dem Wald gab es Beeren und viele Kaninchen, vielleicht mit etwas Glück sogar Igel. Unter ihren Füßen knackten alte Bucheckerschalen. Hier hatte man reichlich zu essen, ohne Hühner stehlen zu müssen.
Der Boden fiel sanft Richtung Fluss ab. Diese Böschung und der Klang des Wassers sagten ihr stets, wo sie sich gerade befand, egal wo sie stand. Sehr beruhigend, diese kleine Gewissheit.
Einmal strauchelte sie, weil sie zu intensiv nachdachte und eine Baumwurzel schlauer war als sie. Gelegentliches Fallen gehörte zum Blindsein dazu. Das musste man gelassen sehen.
Am oberen Rand der Lichtung standen Brombeersträucher, was sie herausfand, als sie von deren Dornen aufgespießt wurde. Sie aß ein paar Beeren, traf ihre Entscheidung und ging zurück, um Doyle und Grey bei ihren Vorbereitungen für Adrian zuzuhören.
»… die Räume der Dachkammer in der letzten Novemberwoche neu streichen.«
»… Akten ins Depot im Keller … «
»… dauerhaften Kalkanstrich. Kaum vorstellbar, dass … «
Sie redeten belangloses Zeug. Tausende Male schon hatte sie genau solche Gespräche bei Männern kurz vor einer Schlacht gehört. Greys Stimme vermittelte Vertrauen, das nicht in Worte gefasst werden musste. Wenn man ihn so reden hörte, konnte man nur den Eindruck gewinnen, dass er letzten Monat mehrere Pfund Metall aus Körpern entfernt hatte, und das noch dazu erfolgreich. Adrian besaß eine schon fast französische Beherztheit. Dieser Gedanke kam ihr nicht zum ersten Mal. Aus seinen sorglosen Worten sprach die Entschlossenheit, Grey zu vertrauen und sein Leben in dessen Hände zu legen. Irgendwann und irgendwo hatte Grey sich das Vertrauen dieses klugen, jungen Zynikers verdient.
Es wäre schade, wenn sie Adrian aus Leblancs Keller und den ganzen weiten Weg hierhergebracht hätten, nur damit er starb.
Doch diese
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