Joanna Bourne
Möglichkeit war sehr wahrscheinlich. Grey hatte nicht die leiseste Ahnung, wie man Kugeln entfernte. Wäre sie von unverbrüchlicher Loyalität gegenüber Frankreich erfüllt gewesen, hätte sie sich gefreut; denn sie hatte schon so einiges über Adrian gehört, was ihn als Meisterspion und gefährlichen Gegner Frankreichs auszeichnete.
Das Scheppern von Metall ertönte. Dort hinten legte Doyle die Instrumente am Boden bereit. Sie hatte sich entschieden, in diesem Punkt gegenüber Frankreich unloyal zu sein.
»Grey, ich möchte Euch kurz sprechen«, bat sie.
»Später.«
»Jetzt.« Sie ging weg.
Tiens . Das stellte ihn auf die Probe, oder etwa nicht? Wenn sein Vertrauen jetzt nicht ausreichte, um wissen zu wollen, was so wichtig war, würde er ihr auch nicht Adrians Leben anvertrauen.
Zehn Schritte den Hügel hinab blieb sie stehen. Seine Schritte folgten ihr.
»Ich habe jetzt keine Zeit für so etwas, Annique.«
»Ich kann die Kugel rausholen.«
Nun bekam sie es mit Greys berühmtem langen Schweigen zu tun. Dann sagte er: »Das würde mich nicht überraschen. Ihr wart bei verschiedenen Armeen, nicht wahr? Wo habt Ihr gelernt, Kugeln zu entfernen? Mailand?«
»Und Millesimo und Bassano und Roveredo und … und sonst wo.« So viele Schlachtfelder. »Wenn man Jungenkleidung trägt, ist das Feldlazarett der sicherste Platz während einer Schlacht. Ist man damit beschäftigt, widerwärtige Flüssigkeiten aufzuwischen, drückt einem niemand ein Gewehr in die Hand und erwartet, dass man Leute umbringt.«
»Verstehe.« Dieser nüchterne Tonfall. Sie wusste, dass Grey vor der Zeit beim britischen Geheimdienst Infanteriemajor gewesen war. Mit Feldlazaretten und den Nachwirkungen von Schlachten kannte er sich aus.
»Zuerst war ich zum Saubermachen in diesen Krankenhäusern. Als ich da war … Grey, es gab einfach keine Sanitäter, denen man es zugetraut hätte, einen Kissenbezug zusammenzunähen, geschweige denn einen Bauch. Ich habe sehr geschickte Hände. Es dauerte nicht lange, da kannten mich die Ärzte. Bei Rivoli blickten sie nicht mal mehr auf, wenn ich kam, sondern zeigten nur noch, wo ich mit der Arbeit beginnen sollte. Ich habe unzählige Granatsplitter herausgeholt, kleine Teile, für deren Suche die Chirurgen keine Zeit hatten. Und wenn Not am Mann war, auch viele Kugeln.«
»Viele Kugeln.« Sie fühlte seinen Atem in ihrem Gesicht.
»Ich brauche die Augen nicht. Dafür nicht.« Sie hatte keine Ahnung, warum sie sich derart bemühte, ihn zu überzeugen. Vielleicht konnte sie Adrian gar nicht retten. Vielleicht war es sein unausweichliches Schicksal zu sterben, sobald die Kugel entfernt wurde. Aber dann sollte es nicht Grey sein, der Hand an seinen Freund legte und spürte, wie ihm das Leben durch die Finger rann. Das könnte sie ihm ersparen. »Wisst Ihr, es ist keine Frage des Sehens. Wenn man Kugeln ausgräbt und dabei Fleisch wegschneidet, fließt viel Blut. Man kann eh nichts sehen. Man muss sich immer auf seinen Tastsinn verlassen, unter der Haut fühlen und mit einer Sonde den Eintrittspfad ergründen.«
»Macht es.«
»Ich habe viel Erfahrung beim – «
»Ich sagte, macht es.« Ohne noch weiter zu diskutieren oder zu fragen, ging Grey davon. Musste sie das verstehen?
In der Mitte der Lichtung hatten sie Decken auf dem Boden ausgebreitet. Dort hatte Doyle sein ganzes Sortiment ärztlicher Instrumente aufgereiht. Während sie Greys Erklärungen zur Planänderung lauschte – seine Stimme zeigte nicht ein Mal, keine einzige Minute lang, irgendwelche Zweifel an ihren Fähigkeiten –, kniete sie sich hin und machte eine Bestandsaufnahme der Zusammenstellung grimmigen Metalls. So viele Instrumente. Die meisten stopfte sie schnell in die Ledertasche zurück. Sie behielt nur die kleinsten Klammern, Zangen und Pinzetten sowie eine Schere und ein kleines rasierklingenscharfes Messer. Das reichte ihr.
Aus irgendeinem Grund roch alles nach Fisch und trockenem Blut. Sie mochte diese Werkzeuge nicht einmal berühren, so dreckig waren sie. Also schickte sie Doyle mit Seife zum Fluss, um sie zu reinigen. In diesem Moment fühlte sie sich wie eine Roma. Sie hätte die Instrumente niemals in einer Schüssel gewaschen. Die Roma wuschen nicht in stehendem Wasser.
Dann drehte sie sich um und tastete Adrian ab, um sich ein Bild zu verschaffen. Sein Oberkörper war frei, und er saß auf dem Boden, während Grey den Verband auftrennte.
» Chère Annique, wenn ich gewusst hätte, dass Ihr mich aufschneidet,
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