Jodeln und Juwelen
sind Sie sicher eine der Sängerinnen?«
Emma schüttelte den Kopf. »Das war ich
früher einmal, aber dazu bin ich inzwischen zu alt. Und Sie sind sicher einer
der Gäste, die wir auf Pocapuk erwarten. Mein Name ist Kelling, ich bin ihre
Ersatz-Pensionswirtin. Mrs. Sabine kann leider nicht kommen. Ihr Arzt hat ihr
die Reise verboten.«
Der Herr machte eine kleine Verbeugung
und drückte damit geschickt sowohl Bedauern als auch Freude aus. »Es tut mir
Leid zu hören, dass Mrs. Sabine krank ist. Aber ich freue mich natürlich über
die glücklichen Umstände, die dazu geführt haben, dass man Sie an ihrer Stelle
geschickt hat.«
Dieser Mann konnte nur Graf Radunov
sein. Emma hatte jemanden mit Monokel und exzentrischer Weste erwartet, doch
der Graf sah auch in seiner grauen Flanellhose und dem maulwurfsgrauen
Tweedjackett äußerst distinguiert aus. Emma hielt jede Wette, dass die Jacke
vor dreißig oder vierzig Jahren für ihn in der Saville Row angefertigt worden
war, als er noch ein paar Pfund mehr gewogen und noch nicht zu schrumpfen
begonnen hatte. Das braune Brooks-Brothers-Sporthemd passte hervorragend dazu.
Das einzige, das entfernt an einen Hochstapler denken ließ, war das fast gänzlich
verblasste Muster mit den Doppeladlern auf dem dunkelbraunen Seidenschal, der
aus dem offenen Hemdkragen hervorlugte. Der Schal selbst war geschmackvoll,
distinguiert und genau richtig für einen in die Jahre gekommenen Hals. Apropos
Hals. Emma griff nach ihrem Liberty-Schal, glättete die Falten so gut es ging
und schlang ihn sich um den ihren.
Der Herr zeigte sich beeindruckt.
»Diesen Schal kann nur jemand ausgesucht haben, der Sie sehr liebt, denn er
passt einfach wunderbar zu ihren Augen. Oh Verzeihung, ich habe mich noch gar
nicht vorgestellt. Mein Name ist Alexei Radunov.«
»Das dachte ich mir bereits.« Emma
hatte den Schal in Wirklichkeit bei einem ihrer seltenen Ausflüge in Filene’s
Basement aus einem Berg mit Sonderangeboten herausgefischt, hütete sich jedoch,
dies verlauten zu lassen, und konterte gekonnt: »Lautet die korrekte Anrede
Graf Alexei oder Graf Radunov? Ich bin mir immer so unsicher mit russischen
Adelstiteln.«
»Darüber brauchen Sie sich wirklich
nicht den Kopf zu zerbrechen. Diese russischen Titel aus der Zarenzeit sind
heute nur noch ein Witz, über den schon niemand mehr lacht. Aber da Sie die
Freundlichkeit hatten, zu fragen: Die korrekte Anrede lautet Graf Radunov. Aber
was Sie betrifft, wäre ich überglücklich, wenn Sie mich einfach Alexei nennen
würden.«
Das war ja mal wieder typisch. Wenn sie
anfing, ihn Alexei zu nennen, würde er sich todsicher die Freiheit herausnehmen
und sie Emma nennen, und die anderen würden es ihm bald nachtun. Sie zog es
vor, weiterhin Mrs. Kelling zu bleiben, bis sie herausgefunden hatte, mit wem
genau sie es zu tun hatte.
»Wahrscheinlich werden wir uns früher
oder später alle beim Vornamen nennen, wenn wir uns erst näher kennen gelernt
haben.« Das musste eigentlich reichen, um ihn in seine Schranken zu verweisen.
»Sind noch mehr Sommergäste an Bord, die nach Pocapuk wollen?«
»Auf dem Oberdeck befinden sich fünf
Personen, die sich recht gut zu kennen scheinen. Ein Mann mit einem buschigen
schwarzen Bart, der in den Zwanziger- und Dreißigerjahren den idealen Bühnenbolschewiken
abgegeben hätte, sitzt etwas abseits von den anderen. Er hält einen Krug mit
Rotwein zwischen den Knien, aus dem er allerdings, soweit ich gesehen habe,
fast nichts getrunken hat. Ich persönlich kenne keinen der Herrschaften.«
»Warum gehen wir dann nicht einfach
hoch und machen uns miteinander bekannt?« schlug Emma vor. »Es würde mich nicht
wundern, wenn der Mann mit dem Weinkrug Black John Sendik ist. Er schreibt
Kriminalromane, soweit ich weiß.«
»Ah, das würde natürlich alles
erklären.«
»Sie sind ebenfalls Dichter, hat mir
Mrs. Sabine mitgeteilt.«
»Ich bin nichts weiter als ein
kritzelnder Dilettant. Wie Sie sicher wissen, kann man von der Dichtkunst nicht
leben. Ich schreibe daher unter wechselnden Pseudonymen Ballett- und
Opernkritiken für diverse Zeitungen und Zeitschriften und drücke dabei
unterschiedliche Meinungen aus, um auch allen Lesern gerecht zu werden. Ich
verfasse Artikel mit tiefsinnigen Hypothesen und wenig beweisbaren Fakten über
die Gemälde in der Hermitage und die kostspieligen Seltsamkeiten des
verstorbenen Monsieur Faberge.«
»Ach ja?« sagte Emma. »Dann kennen Sie
vielleicht meinen angeheirateten Neffen Max
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