Jodeln und Juwelen
dem Moment kaputtgegangen,
als der Mann die Tasche in der Hand hielt.
Die Fähre legte ab und verließ tuckernd
den Hafen. Der Tag, den James Russell Lowell in seinem Gedicht Die Vision
von Sir Launfal beschrieben hatte, musste ähnlich schön gewesen sein,
dachte Emma.
Außerdem war dies die erste Gelegenheit
seit langem, einfach nur dazusitzen und auszuspannen. Gestern Abend war sie mit
ihrem Sohn den weiten Weg nach Boston gefahren und hatte die Heatherstones zum
Flughafen gebracht. Heute Morgen war sie früh aufgestanden, um noch letzte
Vorkehrungen zu treffen, das riesige Abschiedsfrühstück zu vertilgen, das ihre Enkel
liebevoll für sie vorbereitet hatten, und sich von Schwiegertochter nebst Hund
zum Springfield Airport kutschieren zu lassen. Obwohl keiner von beiden während
der Fahrt gejodelt hatte, stellte Emma jetzt fest, dass sie mit den Nerven
ziemlich am Ende war.
Das monotone Tuckern der Fähre und das
Klatschen der Wellen gegen den Schiffsrumpf waren zwar laut, aber irgendwie
entspannend. Emma hatte sich einen guten Sitzplatz ausgesucht, sie saß weder
direkt in der Sonne, noch im Fahrtwind, außerdem befand sich niemand in ihrer
unmittelbaren Nähe. Der Liegestuhl war weit bequemer als sie erwartet hatte. Da
sie eine relativ lange Fahrt vor sich hatte und nicht genau wusste, was sie am
Ende ihrer Reise erwartete, war es eigentlich am vernünftigsten, einfach die Augen
zu schließen und ein kleines Nickerchen zu machen.
Doch Emma wollte nicht schlafen. Man
sah immer so albern aus, wenn man mit offenem Mund und schlaffem Hals im
Liegestuhl lag. Vielleicht würde eine Tasse Kaffee sie wieder munter machen.
Sie stand auf und begab sich in die Kajüte, wo es eine Art Erfrischungsstand
gab.
Wie erwartet war es dort brechend voll.
Fahrgäste drängelten sich an der Theke oder versuchten, sich mit Tabletts
voller Softdrinks und Hotdogs den Weg durch die Menge zu bahnen. Emma gelang es
gerade noch, ohne größere Verrenkungen aus dem Gewusel wieder herauszukommen.
Dabei bekam sie allerdings einen Stoß in die Rippen, der so schmerzhaft war,
dass sie sich umdrehte, um den Rowdy mit einem Blick zu stellen. Doch sie
konnte nicht mehr ausmachen, wer von den vielen Menschen ihr den Stoß
verabreicht hatte. Emma trug ihren Kaffee zum Liegestuhl und nippte
versuchsweise daran. Er schmeckte so scheußlich, dass sie sofort noch einen
Schluck zu sich nahm, in der Hoffnung, sich geirrt zu haben. Was leider nicht
der Fall war. Trotzdem zwang sie sich, die Hälfte der Tasse zu trinken, und
stellte den Rest unter ihren Stuhl. Dann versuchte sie, ihre Aufmerksamkeit auf
das Taschenbuch zu lenken, das sie als Reiselektüre mitgenommen hatte.
Der Kaffee wirkte alles andere als
belebend. Das Taschenbuch fiel ihr aus der Hand. Emma machte sich nicht einmal
die Mühe, es aufzuheben.
Kapitel
3
Sie lag auf ihrem Liegestuhl und hatte
alle Viere von sich gestreckt. Ihr Rock war bis zu den Knien hoch gerutscht, ihr
Kopf schmerzte zum Zerspringen. Sie hatte einen scheußlichen Geschmack im Mund.
Ärgerlich über sich selbst setzte Emma sich auf, strich ihren Rock glatt und
schaute nach ihrem Gepäck. Die Gobelintasche war Gott sei Dank noch da, sie
befand sich direkt neben ihr im Liegestuhl, wo Emma sie vernünftigerweise
eingezwängt hatte. Geld, Scheckheft, Kreditkarten, ihr Goldfüller und das blaue
Notizbuch, in das sie alles Wissenswerte über das Haus der Sabines eingetragen
hatte, lagen nach wie vor darin. Ihre Perücke, die Unterwäsche und das Foto von
Beddoes Kelling nebst Schlauchwagen ruhten ebenfalls sicher und wohlbehalten an
ihrem Platz. Sie nahm ihr Puderdöschen, öffnete es, um einen Blick in den
Spiegel zu werfen, und machte sich auf das Schlimmste gefasst.
Sie bot einen grauenhaften Anblick. Ihr
Gesicht war gerötet, der Hut verrutscht. Ihre Augen sahen äußerst merkwürdig
aus, die Pupillen waren auf Stecknadelgröße geschrumpft. Es kam sicher nicht
von der Sonne, denn Emma hatte die Augen die ganze Zeit fest geschlossen
gehabt, außerdem lag ihre Deckseite inzwischen im Schatten.
Sie konnte sich nicht erklären, wie ihr
das hatte passieren können. Was in aller Welt war in dem Kaffee gewesen? Sie
warf einen Blick unter den Liegestuhl, um nach dem Kaffeebecher zu sehen, doch
der Becher war fort. Genau wie ihre Reisetasche.
War es möglich, dass man ihr ein
Schlafmittel verabreicht hatte? Emma neigte außerhalb des Theaters nicht zu
melodramatischen Exzessen, doch ihre Nichte Sarah war
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