Jodeln und Juwelen
duftig, klein und rosa, wie man sie um diese Jahreszeit
an der Küste oft in der Nähe alter Häuser an großen Büschen blühen sah. Sandy
hatte wahrscheinlich die schönste Blüte für sie ausgesucht. und die kleine
silberne Vase hatte sie wohl in einem von Adelaides Schränken gefunden. Es gab
hier unendlich viele hübsche Dinge, um die sich die Erben streiten konnten,
wenn die Zeit gekommen war. Marcia neigte zwar nicht zu Zwistigkeiten, doch bei
ihren beiden Schwägerinnen war sich Emma nicht so sicher. Vielleicht hatte
Adelaide Listen vorbereitet, auf denen stand, wer was bekam, aber vielleicht
war es ihr inzwischen auch völlig egal. Emma goss den Tee aus der eleganten
Silberkanne in die zierliche Tasse und probierte einen kleinen Schluck.
Perfekt, genau wie sie erwartet hatte.
Sandy zeigte keinerlei Lust, sich zu
verabschieden. Emma störte es nicht. »Wie wird der Tag heute?« fragte sie das
Mädchen.
»Gemischt, würde ich sagen. Das Wetter
ist in Ordnung, aber bei Dad steht alles auf Sturm.«
»Ach herrje. Was hat er denn?«
»Der Mann, den Ted gefunden hat, ist
weg.«
»Sandy! Das darf doch nicht wahr sein!
Ich dachte, dein Vater hätte ihn in der Vorratskammer eingeschlossen.«
»Hat er ja auch. Deshalb ist er doch so
sauer. Er glaubt, dass einer von uns ihn rausgelassen hat.«
»Wer denn?« Emma tat die Frage sofort
Leid.
»Ich war es jedenfalls nicht. Und Bernice
auch nicht, weil wir im selben Zimmer schlafen und sie sich jedes Mal, wenn sie
aufsteht, den großen Zeh am Bettpfosten stößt. Also hätte ich es bestimmt
gemerkt. Außerdem hat sie im Dunkeln Angst.«
»Dann verdächtigt dein Vater also
deinen Bruder oder Ted?«
»Dad war gestern Abend schon ziemlich
sauer, weil Neil und Ted den Kerl einfach ins Haus gebracht haben, ohne vorher
zu fragen. Er weiß immer gern, was los ist. Und Neil ist stinkig, weil er Dad
unfair findet. Meine Mutter sagt, dass Neil grade ‘ne schwierige Phase
durchmacht, aber ich glaube, dass er einfach nur stur ist. Eltern verstehen
ihre Kinder nie richtig. Möchten Sie noch ein bisschen Tee, Mrs. Kelling? Es
ist noch was in der Kanne. Ich könnte Ihnen noch eine Tasse einschenken.«
»Aber nur ein Schlückchen. Ich habe es
am liebsten, wenn meine Tasse nicht ganz voll ist.«
Es reichte schon, wenn das Fass dabei
war überzulaufen, dachte sie düster. Warum war dieser grässliche Mann nicht in
der Speisekammer geblieben? Aber wenigstens war er nicht im Haus
herumgeschlichen — oder vielleicht doch? Sie erinnerte sich genau, dass sie
ihre Reisetasche gestern Abend auf den Schemel gestellt hatte. Doch da war sie
jetzt eindeutig nicht mehr. Emma stellte ihre Tasse ab und begann zu Sandys
großer Verwunderung, das Zimmer abzusuchen.
»Was ist los, Mrs. Kelling? Haben Sie
was verloren? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«
»Ja, das kannst du. Ich vermisse meine
kleine Reisetasche mit dem Feenschmuck. Du hast sie gestern sicher gesehen, als
du mir beim Auspacken geholfen hast. Schau dich doch bitte schnell mal im Haus
danach um. Wenn du sie nicht findest, geh bitte und sag deinem Vater Bescheid.
Ich fürchte, dass sie jemand gestohlen hat.«
»Oh Gott! Sie meinen, der Kerl ist in
Ihrem Zimmer gewesen, während Sie geschlafen haben?«
»Entweder er oder jemand anderer, es sei
denn, ich bin urplötzlich zur Schlafwandlerin geworden. Sandy, ich bin sehr
betroffen über diesen Vorfall. Bitte beeil dich. Ich werde mich jetzt
anziehen.«
Das Mädchen stürzte davon. Emma wusch
sich in aller Schnelle, schminkte sich, zog einen Khaki-Baumwollrock, eine
beigegrün gestreifte Bluse und sandfarbene Espadrillos an. Mit passender
Unterkleidung selbstverständlich. Es hatte Zeiten gegeben, in denen sie an
heißen Sommertagen strumpflos gegangen war, aber nie, absolut nie war sie ohne
Büstenhalter ausgegangen. Emma konnte sich nicht vorstellen, warum sich eine
Frau im heiratsfähigen Alter freiwillig diese fürchterliche Unbequemlichkeit
antat, nur um ein politisches Zeichen zu setzen. Wussten die Frauen denn nicht,
dass die Büstenhalter, wie man sie heute trug, eine moderne Erfindung waren?
Dazu gemacht, Frauen von den langen, unbequemen, engen Schnürkorsetts zu
befreien, in die ihre barbusigen Großmütter und Urgroßmütter, die nicht einmal
das Wahlrecht besaßen, sich hatten zwingen müssen, um an den Stellen
Unterstützung zu bekommen, wo sie am dringendsten gebraucht wurde?
Nein, bestimmt nicht. Niemand wusste
heute mehr etwas, die Menschen überließen alles den
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