Jodeln und Juwelen
nicht
in der Stimmung für eine Konversation. Alles, was Emma aus ihr herausbekam, war
die Versicherung, dass sie eigentlich nicht krank sei, sondern sich nur schwach
fühle. Sie wolle kein Wasser, und lesen wolle sie auch nicht. Sie wolle
eigentlich gar nichts, außer, so viel wurde deutlich, dass Mrs. Kelling sie
endlich in Ruhe lasse.
Vincent wartete mit seiner Laterne auf
Mrs. Faths Veranda. Emma hätte für diese Aufmerksamkeit eigentlich dankbar sein
müssen, war es jedoch nicht. Wenn der Mann wirklich so fürsorglich und
feinfühlig war, wie hatte er es dann fertig gebracht, den ganzen Tag nur ein
paar Meter von einem Toten entfernt an seinem Elektrowagen herumzubasteln?
Das war ungerecht von ihr, wies sie
sich selbst zurecht. Vincent musste schließlich seine Arbeit erledigen, und es
gab nun einmal keinen anderen Ort, an dem er dies tun konnte. Der unbekannte
Tote bedeutete ihm nichts, und der Körper im Stall war nur eine leere Hülle.
Der Hausmeister hatte dem Verstorbenen den nötigen Respekt erwiesen, er hatte
ihn aus dem Sturm gerettet, hatte ihn, so gut es ging, aufgebahrt, und hatte
dafür gesorgt, dass die Pferdedecke makellos sauber war. Sollte man einem Mann
vorwerfen, dass er nicht abergläubisch war, wenn es um einen Toten ging?
Trotzdem war es Emma unangenehm, als Vincent respektvoll und höflich ihren Arm
nahm, um ihr über eine besonders glitschige Stelle zu helfen.
Der einzige Hoffnungsfunke am Horizont
war die Tatsache, dass der Sturm anscheinend abzuflauen begann. Fast die
einzige Bemerkung, die Vincent auf dem Heimweg machte, wenn man einmal von
»Vorsicht, da kommt wieder eine gefährliche Stelle« oder Ähnlichem absah, war:
»Das Unwetter verzieht sich. Morgen früh kommt mein Bruder ganz bestimmt.«
»Das würde mich sehr erleichtern«,
erwiderte Emma. »Ich frage mich nur, woran der unglückliche Mensch nun
tatsächlich gestorben ist.«
»Is’ mit dem Kopf auf die Felsen
geschlagen und ertrunken, als er bewusstlos war.«
»Sie scheinen sich da ja ziemlich
sicher zu sein.« Emma machte Vincents nüchterne Allwissenheit allmählich zu
schaffen.
»Der zuständige Arzt is’ mein Bruder
Franklin.«
Und Pocapuk würde nicht in die
Schlagzeilen kommen. So war es bisher immer gewesen und so würde es auch
bleiben, jedenfalls so lange Vincent die treibende Kraft hinter den Sabines
war. Jemand anderes namens Vincent, die Dichterin Edna St. Vincent Millay hatte
eine Zeile geschrieben, die Emmas Stimmung besser entsprach: »Ich weiß. Aber
ich heiße es nicht gut. Und ich gebe nicht auf.«
Sie entledigte sich ihrer schmutzigen
Stiefel und hängte das tropfnasse Cape auf, ging auf ihr Zimmer, nahm ein
heißes Bad und machte sich für die Nacht zurecht. Dann nahm sie wieder ihr Buch
mit den Kreuzworträtseln, machte es sich auf der Chaiselongue bequem und
wartete darauf, dass das Haus ruhig wurde. Sobald sie sicher sein konnte, dass
man sie nicht beim Umherschleichen entdecken würde, steckte sie sich den
Schlüssel zum Telefonkabinett in die Tasche, ging zu dem Apparat in der Küche
und schloss die Tür, damit man sie nicht hören konnte, und wählte eine Bostoner
Nummer.
Die Bittersohns waren in ihrem Haus auf
dem Beacon Hill. Sarah war immer noch die Eigentümerin des historischen
Backsteinhauses, das sie von Alexander Kelling geerbt hatte. Da sie immer noch
nicht dazu gekommen war, das Schlafzimmer im Erdgeschoss wieder in ein
Wohnzimmer zu verwandeln, war der Raum genau das Richtige, um dort einen
Ehemann mit einem übel zugerichteten Bein und diversen gebrochenen Rippen zu
umsorgen, der gerade aus dem Massachusetts General Hospital entlassen worden
war und sich dort weiteren Behandlungen unterziehen würde, sobald das Ärzteteam
die Zeit für gekommen hielt.
Das Bettchen von Sohn Davy hatte man in
Theonia Kellings Boudoir im ersten Stock aufgestellt. Seine hingebungsvolle Tante
war überglücklich, den Kleinen in ihrer Nähe zu haben, besonders jetzt, wo ihr
Gatte Brooks die Laufarbeiten seines Schwagers Max übernommen hatte. Brooks war
momentan nicht in der Stadt und vollauf damit beschäftigt, einer
Riesen-Prachtausgabe von Audubuns Vogel-Werk, drei Pastellzeichnungen von Mary
Cassatt und einen kostbaren Kakadu namens Barnaby aufzuspüren, die allesamt aus
einem Privathaus in Cape May, New Jersey, gestohlen worden waren. Kakadus
gehörten normalerweise nicht zum Spezialgebiet der
Bittersohn-Kelling-Detektivagentur, doch Barnaby war zufällig ein persönlicher
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