Joe Golem und die versunkene Stadt
der stillen Glocke«. Irgendwoher kam ihr der Titel bekannt vor. Auf jeden Fall hatte sie schon von Simon Church gehört. Zwar hatte sie keine von Nigel Hawthornes Geschichten über Mr. Church gelesen, aber während der Zeit, als sie in verlassenen Gebäuden gewohnt und an den Kanälen nach Essbarem gesucht hatte, hatte sie einen alten graubärtigen Mann gekannt, der mit einem rasselnden Projektor flackernde Filme vorführte. Es waren immer wieder die gleichen Filme gewesen, ungefähr ein Dutzend verschiedene, aus einer Kiste mit Dosen, die er irgendwo gefunden hatte. Einer der Filme handelte von Simon Church. Der Schauspieler, der ihn darstellte, hatte dem echten Mr. Church allerdings überhaupt nicht ähnlich gesehen.
Aus irgendeinem Grund dachte Molly an das Bild, das an der Wand des Zimmers hing, in dem sie aufgewacht war. Einer der Männer auf dem Foto hatte ein wenig so ausgesehen, wie Mr. Church ihrer Ansicht nach als junger Mann ausgesehen haben könnte.
»Ich frage Sie noch mal«, sagte sie. »Wer sind Sie, und wieso haben Sie den Kerl da geschickt, damit er mich entführt?«
Mr. Church entzündete ein Streichholz, hielt es an seine Pfeife und sog Luft hindurch, um den Tabak wieder zu entfachen. Er löschte das Streichholz mit einer raschen Handbewegung; dann betrachtete er Molly mit hellblauen Augen, in denen irgendeine Regung funkelte, die Molly nicht zu deuten wusste.
»Nigel war nur der erste meiner Mitarbeiter«, fuhr Mr. Church fort, als hätte Molly nichts gesagt. »Ich habe fast immer mit einem Kollegen gearbeitet. Die Alternative finde ich ziemlich trist. Die Zeiten, in denen ich niemand hatte, der als meine rechte Hand fungierte, waren die dunkelsten meines langen Lebens. Wie Sie sehen, geht es mir nicht mehrbesonders gut und meine Bemühungen, Langlebigkeit zu erlangen, werden immer erfolgloser. Die Entropie fordert ihren Tribut. Zum Glück habe ich Joe, der an meiner Stelle weitermachen wird. Seit Jahren ist er mein Kollege und treuer Schüler.«
Joe bedachte den alten Mann mit einem Nicken dankbarer Anerkennung. Molly sah ihm an, welche Trauer er bei dem Gedanken empfand, seinen alten Freund zu verlieren.
»Es tut mir leid, dass es Ihnen nicht gut geht«, sagte sie. »Aber ich kaufe Ihnen das alles nicht so richtig ab. Sie sind eine Art Wissenschaftler, gut. Und wenn Sie sagen, Sie und Joe sind Detektive … schön, dann kann ich mir zwar nicht vorstellen, was Sie hier in den Kanälen suchen, aber okay, das kann ich auch hinnehmen. Ich habe Joe kämpfen sehen, und ich weiß, dass er kein Wissenschaftler ist. Aber können wir jetzt damit weitermachen, dass Sie mir sagen, wie Sie mir Ihrer Meinung nach helfen können?«
Mr. Church starrte sie an. Schließlich nickte er und erklärte: »Also schön. Ich hatte nur die Absicht, Ihre Neugierde zu befriedigen. Wenden wir unsere Aufmerksamkeit wieder Ihnen zu, junge Dame. Oder treffender, sprechen wir über Orlov den Beschwörer und die Bedrohung, der er in diesem Moment gegenübersteht.«
Molly konnte das Ticken der Uhr beinahe spüren.
»Also gut«, sagte sie.
Mit einer Hand zog Joe einen schweren Polsterstuhl neben Molly. »Wir sind seit Jahren in Lower Manhattan«, erklärte er, während er seinen massigen Körper in den Sessel senkte. »Kurz gesagt, Mr. Church und ich sind Detektive. Allerdings untersuchen wir manchmal höchst ungewöhnliche Sachen.«
»Das Okkulte«, sagte Mr. Church. »Phänomene mit übernatürlichem Einschlag.«
»Nur manchmal«, sagte Joe und warf seinem väterlichen Freund undArbeitgeber einen wütenden Blick zu. »Es ist nicht immer so verrücktes Zeug.«
»Sie sind beide verrückt«, sagte Molly.
»Also wirklich, Miss McHugh«, erwiderte Church verärgert, »von Ihnen hätte ich Besseres erwartet. Sie werden wohl kaum abstreiten, dass hinter Felix Orlovs Beschwörungen mehr steckt als bloße Taschenspielertricks? Und dass die Geschöpfe, die an jenem Morgen in Ihr Haus eindrangen und mit Ihrem Wohltäter entkamen, nicht menschlich waren?«
Mit einem Gefühl des Unbehagens blätterte Molly mehrere Seiten in dem Buch um und stellte fest, dass sie auf das Titelblatt einer Ausgabe des The Strand von 1905 blickte. Die Simon-Church-Story, die darauf angekündigt wurde, hieß »Der Skarabäus von Tarquinia«.
Molly war ganz auf Felix’ Entführung und ihre Entschlossenheit, ihn zurückzuholen, fixiert gewesen. An die Gas-Männer hatte sie nicht denken wollen, und an den fremdartigen Arm
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