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Joe Golem und die versunkene Stadt

Joe Golem und die versunkene Stadt

Titel: Joe Golem und die versunkene Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mike Mignola
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eigentümlichen Toteninsel Ebbe gewesen. Das Wasser hatte so viel Boden abgetragen, dass verrottete Särge aus der Erde ragten und Blicke auf blanke Knochen freigaben. Molly war froh, dass bei diesem Besuch heute Flut herrschte.
    »Rede mit mir, Joe«, sagte sie und ließ den Blick über die schier endlosen Grabreihen schweifen. »Ich bekomme hier Gänsehaut.«
    »Worüber möchtest du denn reden?«, fragte Joe.
    »Weiß ich auch nicht. Irgendetwas. Small Talk.«
    »Ich hab mich nie allzu gut auf Small Talk verstanden«, erwiderte er, als bekümmerte es ihn.
    Molly lächelte. »Was du nicht sagst.« Sie hielt sich dichter an ihm, während sie weitergingen. »Erzähl mir mehr von deinen Träumen. Ich weiß, Felix dachte, einige von seinen Träumen wären   … wie war gleich das Wort? Prophetisch. Als könnten sie ihm die Zukunft verraten.«
    Sie spürte, wie Joe neben ihr starr wurde. Er ging zwar weiter, wich Mollys Blick aber krampfhaft aus.
    »Ich wollte nur mit dir reden, weil ich ein bisschen ängstlich bin«, sagte sie. »Ich wollte dich nicht aushorchen. Wenn du nicht darüber reden möchtest   …«
    »Nein, ist schon gut«, sagte Joe hastig, doch Molly konnte sehen, dass die Entscheidung ihm schwerfiel. Einen Augenblick lang glaubte sie sogar, er würde es sich wieder anders überlegen und sich in Schweigen hüllen, aber dann redete er so schnell los, als wollte er sich alles von der Seele reden, ehe er den Mut verlor.
    »Ich hab keine Visionen von der Zukunft«, sagte er. »Was ich träume, ist vor langer Zeit passiert.«
    Molly hörte fasziniert zu, als Joe seine Träume beschrieb. Eine solche Geschichte hatte sie noch nie gehört. Sie erzählte vom Leben einesMannes   – eines Geschöpfs   –, der von den Ältesten eines kleinen Dorfes aus Stein und Erde erschaffen und mit der Aufgabe betraut worden war, die Hexen zu töten, von denen die Ortschaft heimgesucht wurde.
    »Aber   … ein Mann aus Erde und Steinen?«, fragte Molly.
    Joe wölbte eine Augenbraue und sah sie von der Seite an. »Die Welt ist voller seltsamer Dinge. Du bist ’n Zauberlehrling, Kleine, das weißt du doch selber. Wie auch immer, Church glaubt, ich zapfe irgend so ’ne Ahnenerinnerung an. Vielleicht geht meine Abstammung auf dieses kleine Dorf aus dem fünfzehnten Jahrhundert zurück, oder wann auch immer das gewesen sein soll.«
    »In Kroatien?«
    »Ja. So viel weiß ich noch. Im Traum weiß ich alles über den Fluss und das Dorf. Der Fluss heißt Gacka. Ich hab ihn auf modernen Karten gesucht, und er ist in Kroatien   …«

    Er verstummte. Molly erschauerte und hakte sich bei ihm ein. Joe blickte sie nicht an, aber er ließ ihr seinen Arm. Der Regen hatte zu einem Nieseln nachgelassen, aber der Himmel hüllte sich noch in Grau, und auf dem Friedhof herrschte völlige Stille. Kein Vogel rief, kein Tier raschelte. Nur der Wind schüttelte die Äste und Zweige der Bäume.
    »Hast du überlegt, mal dorthin zu reisen?«, fragte Molly.
    »Nach Kroatien?«, fragte er beinahe spöttisch. »Teufel, Kleine, ich bin ’n New Yorker. Und außerdem, wer sollte sich dann um Church kümmern?«
    Molly dachte an Mr.   Churchs Geruch nach Öl und das Geräuschvon Zahnrädern, das aus seinem Körper drang. Sie hatte das beunruhigende Gefühl, dass er sich trotz seines Alters und seiner Gebrechlichkeit sehr gut um sich selbst kümmern konnte. Sie wollte Joe aber nicht verunsichern, indem sie diese Sache ansprach.
    »Glaubst du an so etwas wie ›Ahnenerinnerung‹?«, fragte sie.
    Joe blieb stehen und entzog ihr seinen Arm. Während er über die Frage nachdachte, zog er sein Zigarettenetui hervor. Er bot ihr eine an, doch sie winkte ab. Achselzuckend klemmte er sich eine Zigarette zwischen die Lippen, schob das Etui wieder in seine triefnasse Jacke und nahm ein Feuerzeug hervor, aus dem mit einem Klicken eine Flamme schlug.
    »Ich weiß nicht, was ich glauben soll«, sagte er und steckte die Zigarette an. Das Feuerzeug verschwand wieder. Molly fand, dass sein Talent für Taschenspielertricks auch Felix beeindruckt hätte. Joe überraschte sie ständig mit Fertigkeiten, die sie bei einem so riesigen, vierschrötigen Mann gar nicht erwartet hätte.
    »Ahnenerinnerungen«, sagte er. »Das würde bedeuten, dass ich Erinnerungen an Dinge habe, die schon Jahrhunderte her sind, so wie moderne Menschen sich im Dunkeln fürchten, weil ihre Ahnen, die Höhlenmenschen, wussten, dass in der Nacht Raubtiere rumstreiften, die sie fressen wollten   …

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